STERN 15/2001, 5. April 2001, Seite 46
Kommentar von Matthias Gockel
gomatt@gmx.net
ALS DER TOD NACH RACAK KAM
Das Massaker in dem Kosovo-Dorf war der Anfang
vom Ende des Slobodan Milosevic. Vor zwei Jahren löste es den Krieg
der Nato gegen die Serben aus. Heute ist es ein Hauptanklagepunkt des UN-Kriegsverbrecher-Tribunals
gegen den Ex-Diktator. Doch was in Racak wirklich geschah, ist umstritten.
Der stern sprach mit Überlebenden des Blutbads sowie internationalen
Ermittlern. Und beschreibt detailliert den Hergang des Verbrechens. |
Der einleitende Paragraph stellt klar, dass es in der Folge nicht um eine
abwägende Darstellung der verschiedenen Standpunkte, sondern um eine
Apologie der Massaker-These gehen wird. Worte wie "Ex-Diktator", "Blutbad",
"Überlebende", "Verbrechen" geben die Marschrichtung vor.
Der Weg auf den Bebushi-Hügel ist steil und
glitschig. Immer wieder rutscht Rame Shabani mit seinen Gummistiefeln auf
dem feuchten Gras ab, keucht dann weiter aufwärts. Er hält die
Arme im Nacken verschränkt, das macht den Aufstieg noch schwerer -
so wie damals. Ein paar Mal dreht er sich um, starrt hinunter auf
den Hof von Sadik Osmani. Dorthin, wo die serbischen Polizisten standen
mit ihren Kalaschnikows im Anschlag, während sie ihn und seine Nachbarn
im Gänsemarsch auf die Anhöhe jagten: "Los, macht schon,
geht doch zu euren UCK-Kämpfern in die Berge", johlten sie und
schossen dabei in die Luft. Noch heute glimmt Angst in Rames Blick auf,
wenn er die Szene nachstellt.
Rame Shabani hat ein Massaker überlebt, das serbische Polizisten
und Milizen am 15. Januar 1999 unter den Einwohnern von Racak im mittleren
Kosovo anrichteten -
ein Verbrechen, das die Welt erschütterte. Mit Racak begann die letzte
Eskalation
des Kosovo-Konflikts: zuerst der Versuch, am Verhandlungstisch eine Lösung
zu
erreichen, dann - ab dem 24. März 1999 - der Luftkrieg der Nato gegen
Jugoslawien bis zum Rückzug der Serben. Heute ist das Massaker ein
zentraler
Anklagepunkt gegen den verhafteten Ex-Diktator Slobodan Milosevic in der
Akte
des UN-Kriegsverbrecher-Tribunals.
WAS AN JENEM TRÜBEN WINTERTAG in Racak genau geschah, ist zwischen
Gegnern und Befürwortern des Militäreinsatzes bis heute heftig
umstritten: Haben
die Serben damals tatsächlich 45 unbewaffnete Zivilisten - darunter
zwei Frauen
und ein Kind - kaltblütig erschossen? Oder haben sich in Racak Kämpfer
der
kosovarischen Befreiungsarmee UCK mit den jugoslawischen Milizen ein
Feuergefecht geliefert und ihre Toten hinterher als unschuldige Opfer präsentiert? |
Die ersten beiden Abschnitte offenbaren die Sicht der Reporter: es hat
ein Massaker stattgefunden. Ja, es handelte sich um "ein Verbrechen, das
die Welt erschütterte." Damit wird, ohne jeden Vorbehalt, die von
der NATO verbreitete und bis heute offizielle Version übernommen.
In diesem genau umrissenen Kontext erfolgt die Einführung des Hauptzeugen.
Nachdem die Autoren sich positioniert haben, erfolgt im dritten Abschnitt
der korrekte Hinweis, dass der genaue Hergang der Ereignisse bis heute
umstritten ist. Allerdings wird dieser Hinweis sofort zugespitzt auf einen
Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern des NATO-Angriffs. Es geht
also nicht nur um die Frage, was in Racak geschah, sondern es geht ebenfalls
(vor allem?) um die prinzipielle Berechtigung des NATO-Angriffs. Die notwendige
Differenzierung zwischen diesen beiden Fragen findet nicht statt. Damit
machen sich die Autoren erneut die NATO-Lesart, in der die Ereignisse von
Racak stets als Legitimation des NATO-Angriff dienten, zueigen. Die Möglichkeit,
dass in Racak tatsächlich ein "Massaker" stattfand und dass der NATO-Angriff
ebenfalls ein "Verbrechen, das die Welt erschütterte" (als solches
ist er vielfach wahrgenommen worden, auch von Bürgern der NATO-Staaten),
darstellte, wird nicht in Betracht gezogen.
Rame Shabani ist 34, aber sein Gesicht ist das
eines 50-Jährigen. Shabani sagt, er sei nie Mitglied der UCK gewesen,
so wenig wie die anderen Bauern, die an jenem Morgen auf den Bebushi-Hügel
getrieben wurden. "Natürlich gab es UCK-Kämpfer auch aus unserem
Dorf, 20 oder 30. Doch die hielten Stellung in den Bergen hinter Racak.
Niemand von denen war im Ort, um uns zu verteidigen." Alle sagen das in
Racak - und manche vorwurfsvoll. Teilweise maskierte serbische Polizisten
hatten gegen acht Uhr Osmanis Hoftor eingetreten und die 28 Männer
aus ihrem Versteck getrieben. Sie mussten sich auf den schlammigen Boden
legen. Wer sich bewegte, bekam Stockhiebe.
Zwei Maskierte spürten in Osmanis Keller gut 30 Frauen und fast ebenso
viele Kinder auf. Ihnen geschah nichts. Die Serben schlossen sie ein, ihr
Wimmern drang bis auf
den Hof, wo die Männer schon über eine
Stunde lang im Dreck lagen. Dann wurden die
Männer den Hügel hinauf gescheucht. "Als
wir unversehrt hier oben ankamen, dachte ich, wir sind außer Gefahr",
sagt Rame. Er habe dann angehalten, um eine Zigarette zu rauchen.
Sekunden später trat etwa 100 Meter vor ihm ein serbischer Uniformierter
mit Maschinengewehr aus dem Unterholz und eröffnete das Feuer auf
die 28 Bauern. "Ich sah meine Nachbarn Sadik Osmani und Lutfi Maliqi vor
mir noch zu Boden gehen, dann rannte ich mit meinem Vater und drei anderen,
die hinter uns gegangen waren, den Berg hinunter", sagt Rame. Sie versteckten
sich in überwucherten Felsnischen. Rame hörte "unzählige
Gewehrsalven" und sah "viele Polizisten plötzlich überall den
Hügelkamm durchstreifen". Erst am Nachmittag hörte das Schießen
auf.
Gegen halb fünf trauten sich die Entkommenen aus dem Dickicht heraus
- und fanden die Toten: Erst den 35-jährigen Ragip Bajrami. Er lag
auf dem Rücken, ihm fehlte ein Ohr, und in der Brust klaffte eine
riesige Schusswunde. Ein paar Meter weiter entdeckten sie Sadik und
Lutfi, mit Kopfschüssen niedergestreckt. Und noch ein paar Schritte
weiter die anderen 20 Leichen: "Da wurde uns klar", sagt Rame Shabani,
"dass uns die Polizisten in eine Falle getrieben hatten." Zitternd zündet
er sich eine Zigarette an: "Warum rührt ihr das alles noch einmal
auf?" |
Soweit der erste Teil der angekündigten "detaillierten" Beschreibung.
Grundsätzlich ist zu bemerken, dass die im seriösen Journalismus
grundlegende Frage der Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen nicht gestellt
wird, vielleicht aus Respekt vor einem "Überlebenden". Wir können
die Glaubwürdigkeit also nur als gegeben voraussetzen und annehmen,
dass die 28 Männer, die, laut Aussage von Herrn Shabani, zuerst schikaniert
und später angegriffen wurden, weder UCK-Mitglieder noch zum Zeitpunkt
des Geschehens bewaffnet waren.
Immerhin bemerken die Autoren, dass die Polizeieinheiten, durchaus korrekt,
gegenüber den Frauen und Kindern keine Waffengewalt anwandten, auch
wenn dieses Eingeständnis durch den Hinweis auf das "Wimmern" der
Eingeschlossenen relativiert wird.
In einem ausführlichen Bericht der Menschenrechtsorganisation Human
Rights Watch (HRW) vom 29. Januar 1999 wird ebenfalls berichtet, dass die
Frauen und Kinder sich im Keller von Osmanis Haus versteckten. Die Zahlen
divergieren stark: im STERN ist von "gut 30 Frauen und fast ebenso vielen
Kindern" die Rede, bei HRW lediglich von "etwa 20 Frauen und Kindern".
Von einem "Wimmern" der Eingeschlossenen ist bei HRW nichts zu hören.
Dafür wird berichtet, dass die Männer misshandelt wurden: One
boy who was present, aged twelve, told Human Rights Watch that approximately
thirty men and four boys, himself included, decided to hide in Osmani's
stable. A group of approximately twenty women and children hid in the cellar
of Osmani's three-storey house
the women and children in the cellar were
left unharmed
Before the twelve-year-old boy was sent to the cellar
he saw how the police beat the men in the yard, including his father and
some other relatives. The boy told Human Rights Watch: "Two or three policeman
beat them with wooden sticks. One was kicking them in the face with
his boots. The others were just watching. It was terrible. The men were
screaming, and their heads were covered with blood. A policeman locked
me in the cellar with the women, but I could hear screaming for the next
half an hour." This version of events was corroborated by three other women
locked in the cellar who spoke with Human Rights Watch in two separate
interviews, although they could not see the men in the yard.
Im STERN-Bericht findet sich von alledem nichts. Hat der 12-jährige
Junge, der HRW als Zeuge diente, einfach übertrieben im Dienst der
guten Sache?
Eine wesentliche gravierendere Abweichung, um nicht zu sagen ein auffallender
Widerspruch zum Bericht von HRW ergibt sich, wenn wir die Chronologie vergleichen:
während Shabani im STERN berichtet, dass serbische Polizisten die
Männer um 8 Uhr morgens aufspürten und sie eine Stunde später
"den Hügel hinauf scheuchten", berichtet HRW, dass die Polizei kurz
vor Mittag in Osmanis Hof eindrang und sie um 13 Uhr vier Stunden später
als in der Erzählung Shabanis aus dem Hof hinausführte: According
to the boy, the police entered Osmani's yard sometime before noon. One
tall policeman wearing a black mask and a helmet with a blue police uniform
kicked in the door and immediately began to shoot over the heads of the
thirty men lying on the ground, who were screaming 'Don't shoot! We are
civilians!' All of the men were taken outside into the yard, where they
were forced to lie on the ground and searched for weapons
Some time around
1:00 p.m. the police led the twenty-three men out of Osmani's yard.
Eine weitere Ungereimtheit besteht in der Beschreibung der Ereignisse,
die zum angeblichen Massaker führten. Laut HRW wurden die Männer
erst durch das Dorf geführt: One witness, S. A., was hidden at
that time behind a compound wall fifty meters from the Osmani house. He
told Human Rights Watch that he heard the police leading the detained men
through the Racak streets. He said: "I heard the police ask them [the men]
where is the headquarters of our army [the KLA], and they answered where
it was. Then they went together toward the power station in the direction
of our army."
Diese Episode widerspricht der Erzählung Shabanis im STERN. Entweder
Rame Shabani oder der Zeuge S. A. spricht die Unwahrheit.
Der Zeuge S. A. beschliesst seinen Bericht mit einem Hinweis: I think
it was maybe 3:00 p.m. when I heard shooting, but I did not know that they
were killed. Damit suggeriert er, dass eine Exekution stattfand. Diese
Sicht wurde von HRW übernommen: After a detailed investigation,
the organization accused Serbian special police forces and the Yugoslav
army of indiscriminately attacking civilians, torturing detainees, and
committing summary executions.
Im Bericht Shabanis im STERN ist von einer Exekution nicht mehr die
Rede, auch wenn die Autoren das Wort "Massenerschiessung" benutzen. Stattdessen
wird von einer mehrstündigen Schiesserei berichtet, bis die Polizisten
abzogen. Der genaue Hergang bleibt unklar. Nachdem Shabani sich mit vier
anderen Männern für mehr als 8 Stunden versteckt gehalten hat,
findet er die Toten und kommt zu dem Schluss, "dass uns die Polizisten
in eine Falle getrieben hatten".
Hier wird man stutzig: soll das bedeuten, dass bei der mehrstündigen
Schiesserei ausschliesslich von den Polizisten gefeuert wurde? Man fragt
sich dann, auf wen oder was eigentlich geschossen wurde, wenn die Männer
wirklich in eine "Falle" geraten waren? Zugespitzt: benötigten
die serbischen Polizisten mehr als 8 Stunden, um 20 wehrlose Männer
zu erschiessen?
In einem späteren Abschnitt kommt der STERN auf die Frage zu sprechen,
warum mehr als 12 Stunden vergingen, bevor die "Überlebenden" von
ihrer Entdeckung berichteten:
"Auch die Leichen auf dem Bebushi-Hügel hatte
zu diesem Zeitpunkt offenbar noch niemand entdeckt. Rame Shabani und die
anderen vier Überlebenden der Massenerschießung waren in jener
Nacht nicht ins Dorf zurückgekehrt: 'Wir versteckten uns im Wald Richtung
Petrovo und wagten erst am nächsten Morgen, nach Racak zu gehen.'" |
An diesem nicht unwichtigen Punkt bleibt der STERN eine genauere Nachforschung
erneut schuldig.
Im HRW-Bericht findet sich eine zweite Schilderung der angeblichen Massenerschiessung:
One
woman, L.S., told Human Rights Watch that her son and husband had survived
the execution. She told Human Rights Watch: "In the morning I got information
that the men from the stable were found dead. But soon I saw my husband
and son coming toward me - like they were standing up from the grave. My
son told me that the group of policeman had pushed them with their hands
behind their heads to go towards the hill. My son was in front with Sadik,
and the others were behind. When he came to the top of the hill, he saw
another group of policeman waiting for them with rifles. He turned his
head and shouted to the others to run away. He ran toward the village of
Rance, and didn't turn his head. One bullet crossed through his pocket,
and another one is still in his belt."
Da Shabani dem STERN berichtet, dass sein Vater und er selbst dem Feuer
der Polizisten entkam, legt es sich nahe, dass es sich bei der Zeugin L.
S. um die Mutter Rame Shabanis handelt: ihr Mann und ihr Sohn "überlebten
die Exekution".
Auch hier finden wir Widersprüche, in diesem Fall sogar in den
Aussagen derselben Person: während Shabani laut HRW berichtet, dass
die Männer mit hinter dem Kopf gehaltenen Händen den Hügel
hinaufgingen, berichtete er dem STERN, dass er, auf dem Hügel angekommen,
"angehalten [habe], um eine Zigarette zu rauchen." Nun nichts hindert
uns daran, diesen Einschub als rhetorische Ausschmückung zu behandeln,
genauso wie den Hinweis Mutter Shabanis (im HRW-Bericht) auf die Kugeln,
die ihren Sohn trafen. Oder sollte Herr Shabani dieses Detail dem STERN
vorenthalten haben?
Wesentlich schwerer wiegt die Tatsache, dass im HRW-Bericht kein Wort
davon zu finden ist, dass sich Shabani und die anderen "Überlebenden"
mehr als 8 Stunden versteckten und die Opfer der angeblichen Exekution
bereits am Nachmittag fanden. Auch wenn es sich bei der HRW-Zeugin nicht
um die Mutter Shabanis handeln sollte, geht aus dem STERN-Bericht eindeutig
hervor, dass sich die "Überlebenden" gemeinsam versteckten und die
Toten gemeinsam fanden. Unterliess es der Sohn der Zeugin, diese Tatsache
zu erwähnen? Warum? Oder handelte es sich um ein Versäumnis der
Zeugin selbst?
Aber kehren wir zum STERN-Bericht zurück:
Das Massaker von Racak war nicht das erste, das die
Truppen des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic an Kosovo-Albanern
begingen - und es war auch nicht das letzte. Doch die Bilder rüttelten
die Weltöffentlichkeit auf. Der deutsche Außenminister Joschka
Fischer sah einen "Wendepunkt" erreicht. Der Amerikaner William Walker,
damals Leiter der OSZE-Beobachtergruppe Kosovo Verification Mission (KVM),
sprach nach der Besichtigung des Tatorts am nächsten Tag als Erster
von einem "Massaker" der Serben: "Für mich sieht das nach Hinrichtungen
aus." Ein "Special Report" seiner Mitarbeiter erwähnt Beweise für
"willkürliche Verhaftungen, Tötungen und Verstümmelungen
von unbewaffneten Zivilisten".
Belgrad bestritt das Verbrechen von Anfang an: In Racak habe am 15. Januar
1999 eine "klassische Polizeiaktion gegen UCK-Terroristen" stattgefunden,
unter den Augen der KVM-Beobachter, die allerdings auf einem Hügel
postiert waren, anderthalb Kilometer vom Ort entfernt. Erst nach dem Abzug
der Serben hätten die albanischen Freischärler ihre Toten eingesammelt
und als zivile Opfer verkleidet. Die Version der Serben fand zunächst
bei französischen Journalisten Gehör, die noch am Abend im Schlepptau
der KVM-Einheiten den Ort besuchten. Sie meldeten später einen Toten
und mehrere Verwundete, von Exekution keine Spur. Die Herkunft der Toten
am nächsten Morgen: "ein Rätsel". Später griffen britische
und deutsche Zeitungen die "Zweifel über Racak" auf. |
Die Formulierung,
dass "die Version der Serben zunächst bei französischen Journalisten
Gehör" fand, erweckt den Eindruck, als ob die Berichte der Journalisten
die Erklärungen Belgrads lediglich nachsprachen. Das ist falsch. Vielmehr
wurden die Berichte (in Le Monde, Le Figaro und Liberation) eigenständig
recherchiert, und es wurden kritische Fragen nicht nur an die Adresse der
UCK, sondern auch an die Adresse Jugoslawiens gerichtet. Man hat den Eindruck,
dass den beiden STERN-Autoren die Berichte entweder gar nicht oder nur
aus zweiter Hand bekannt sind.
Ermine Beqiri, 45, hat an jenem 15. Januar drei Familienmitglieder
verloren. Mit ihrem schweren, wollenen Hosenrock und dem weißen Kopftuch
der Trauernden sitzt sie auf dem Lammfellsofa in ihrer Stube. Auf dem Herd
brodelt der Topf mit der Kochwäsche, über ihr hängen Fotos
von ihrem Mann Rizah, 49, von ihrem Sohn Halim, einem hübschen blonden
Jungen, der erst 13 war, und von Zenel, dem 22-jährigen Cousin. Sie
ringt die abgearbeiteten Hände in hilflosen Gesten, als wüsche
sie unsichtbare Kleider, während sie erzählt. Von den Schüssen,
die die Familie morgens gegen Viertel vor sieben weckten und die immer
näher kamen. Von der überstürzten Flucht von ihrem Hof am
oberen Ende des Malhala-Viertels, als sie auf den Anhöhen rund um
den Ort schon serbische Polizisten postiert sahen. "An drei Seiten hatten
sie das Dorf umzingelt", sagt ihr Schwager Xhemajl, 46.
Die Menschen in Racak erinnern sich an die Aufmarschformation von MUP-Spezialtruppen
der serbischen Polizei in blauen, von Antiterroreinheiten der Armee (SAJ)
in grünen und lokalen Paramilitärs in schwarzen Kampfanzügen.
Auf dem Cesta-Hügel im Norden waren Panzer aufgezogen, sie nahmen
das Dorf an jenem Morgen als Erste unter Beschuss. Auf den Hügeln
im Westen und Süden direkt hinter den Häusern waren serbische
Einheiten zwischen sieben und acht Uhr zu Fuß angerückt, zur
selben Zeit näherten sich Panzerfahrzeuge über die Zufahrtsstraße. |
Was der STERN verschweigt: auch die UCK beteiligte sich an dem Gefecht.
Der ausführliche Bericht von HRW stellt klar, dass die Polizeiaktion
sich gegen Stellungen der UCK richtete: Witnesses told Human Rights
Watch that they heard automatic weapons fire beginning around 6:30 a.m.
on January 15, when the police reportedly exchanged fire with the KLA from
a hill called Cesta. Half an hour later, army tanks and armored cars came
as backup and shelled the forest near the neighboring village of Petrovo,
where some KLA units were positioned.
Around 7:00 a.m., Racak was surrounded
by the Serbian police. Several witnesses told Human Rights Watch that they
saw seven blue armored vehicles on Cesta hill, as well as three VJ tanks
(type T-55).
"Wir liefen den steilen Fußweg hinauf, in geduckter
Haltung, denn vom Hügel hinter uns wurde geschossen", berichtet Ermine
Beqiri, "dann sah ich vor mir meinen Mann stürzen und hinter ihm meinen
Cousin, beide waren getroffen." In Panik wandte sie sich um zu ihrem 13-jährigen
Halim. "Doch da lag auch mein Kleiner blutend auf dem Weg", sagt die Mutter,
und bis dahin mühsam unterdrückte Tränen strömen über
ihr Gesicht. "Ich habe mich auf ihn gestürzt, wollte ihn mitschleppen.
Doch mein Sohn Hasan riss mich von ihm fort, zerrte mich aus dem Schussfeld
in ein Nachbarhaus." |
Auch diese Episode
findet sich im Bericht von HRW, mit einem Bericht derselben Zeugin (der
STERN nennt als Familiennamen "Beqiri", bei HRW heisst sie "Beqa"): Ten
households of the Beqa family live in the part of Racak called Upper Mahalla
on the edge of the village. According to one member of the family, whose
son and husband were both killed, at around 7:00 a.m. thirty members of
the Beqa family tried to run toward the nearby forest when they heard the
police. She told Human Rights Watch that more then forty policemen wearing
blue uniforms and without masks began shooting at them from a distance
of twenty meters from the top of the hill. She said: "My son H.B. was running
on my left side, maybe two meters from me. He had his trousers in his hands,
we did not have time to dress properly. He was warning me to move aside
and suddenly he fell down. The bullet hit him in the neck. In front of
me my husband fell as well. He didn't move any more."
Im Unterschied zum STERN-Bericht ist hier die Rede davon, dass die Familie
versuchte, in ein Waldgebiet zu fliehen und dass die Schüsse aus einer
Enfernung von nur 20 Meter erfolgten. Diese Schilderung ist nur schwer
mit dem STERN-Bericht, in dem die Polizisten bereits weithin sichtbar das
Dorf "umzingelt" hatten, in Einklang zu bringen es sei denn, das Waldgebiet
befände sich nicht ausserhalb, sondern innerhalb des Dorfes, oder
die Familien liefen unsinnigerweise geradewegs auf die Angreifer zu, die
sich auf mehreren Hügeln postiert hatten. Auch die Notiz, dass der
Sohn sich an Frau Beqiri wandte, bevor er tödlich getroffen wurde,
reimt sich nicht mit der Schilderung im STERN.
Ein paar hundert Meter weiter unten im Dorf ähnliche
Szenen. Bajram Mehmeti, 49, seine Tochter Hanumshahe, 22, und sein neunjähriger
Sohn Elhami fliehen gegen sieben Uhr von ihrem Hof, zusammen mit Agron,
dem Cousin aus dem Nebenhaus. Die Kinder waren nur für eine Nacht
zu Besuch, Bajrams Familie lebte damals bei Verwandten in der Nachbarstadt
Ferizaj, zur Sicherheit. Schon zweimal zuvor, im August und Dezember 1998,
waren die Serben marodierend durch Racak gezogen, hatten Häuser durchsucht
und angezündet. Aber da war niemand getötet worden.
Rund 800 der einst 2000 Bewohner hatten im Dorf ausgeharrt; seit Oktober
galt eine brüchige Waffenruhe zwischen der jugoslawischen Armee und
der UCK. "Wer blieb, der hoffte, die KVM beschützt uns", sagt Agron
Mehmeti, 35, einer der beiden muslimischen Geistlichen im Ort. Doch die
unbewaffnete internationale Beobachtertruppe konnte, überall im Kosovo,
nur zusehen. |
Die letzte Formulierung ist nicht nur Scharpingesk ("Wir dürfen nicht
wegsehen!"), sondern ausserdem eine Lüge. Sie entlarvt den Bericht,
man kann es nicht anders sagen, als nachträgliche Kriegshetze. Die
internationalen Beobachter berichten übereinstimmend, dass ihre Präsenz
zu einer deutlichen Verbesserung der Situation im Kosovo führte. Die
Formulierung des STERN stellt die Verhältnisse auf den Kopf.
Aus Unkenntnis der Autoren?
Auch die Mehmetis schlossen sich an jenem Morgen den
flüchtenden Nachbarn an.
"Sie haben auf uns von den Hügeln gezielt wie auf Kaninchen", erinnert
sich Agron Mehmeti. "Zuerst traf es Bajram, er blieb mitten auf der Kreuzung
tot liegen. Danach den kleinen Elhami." Elhami ist heute elf, ein blasser
Junge mit riesigen, blauen Augen.
DIE KUGEL HAT SEIN RECHTES BEIN unter dem Knie durchschlagen, er hat noch
immer Schmerzen beim Gehen. Die Wunde ist schlecht verheilt, seine Mutter
hat kein Geld für die dringend notwendige Krankengymnastik. Hanumshane,
seine große Schwester, war mit ihm ins Bachbett gekrochen, hatte
sich unter den Schüssen schützend über den Kleinen gekauert.
"In dem Moment traf sie eine Kugel in die Brust", erzählt Agron. "Sie
machte noch ein paar Schritte, hievte sich und ihren Bruder mit letzter
Kraft hinunter ins eisige Wasser. Zwei Minuten später war sie tot."
Der Imam bettete das Mädchen neben den Bach und zog Elhami hinter
einen Holzverschlag. Als die Polizisten Haus um Haus durchkämmten,
konnte er sie genau beobachten: "Sie waren völlig ruhig, die hatten
keine Angst vor Terroristen, die ihnen auflauern könnten. Es war,
als wüssten sie, dass wir ihnen wehrlos ausgeliefert waren." |
Laut HRW wurde Hanumshane allerdings nicht im "eisigen Wasser" getroffen
noch starb sie daselbst in selbstloser Sorge um den kleinen Bruder, sondern
eine Granate traf sie im Dorfzentrum, 20 Meter von einem Brunnen entfernt,
und sie starb in den Armen eines Nachbarn: According to M.B., who was
hiding in his home, Bajram Mehmeti and his daughter Hanumshahe were killed
by a grenade early in the morning of January 15 as they were running through
the center of the village. He said: "My cousins were lying twenty meters
from the water well. He was hit in the head and she was hit in the chest.
One man pulled her in the house and she died in his hands."
Über 60 Frauen, Männer, Kinder hatten bei
Idrim Hajrizi, 50 Meter bergauf, Zuflucht gesucht. Die großen Gutshöfe
versprachen besseren Schutz. Doch überall wiederholte sich die gleiche
Prozedur: Serbische Polizisten traten das Tor ein, sperrten Frauen, Kinder
und halbwüchsige Jungen ein und trieben die Männer - "Los, haut
ab zu eurer UCK!" - in die Todesfalle auf dem Bebushi-Hügel.
Aber anders als die Opfer vom eingekesselten Hof von Sadik Osmani konnten
die meisten Männer, die aus den anderen Häusern gejagt wurden,
entwischen, die Uniformierten verfolgten sie nicht.
Heute wissen die Leute von Racak, weshalb: "Die Serben wären ins Schussfeld
ihrer eigenen Schützen auf den Hügeln geraten." |
Diese Angaben ergänzen
die erste "detaillierte" Schilderung, auch wenn die Einzelheiten erneut
unklar bleiben: nicht nur die Männer aus Osmanis Hof, sondern auch
die Männer, die sich in anderen "großen Gutshöfen" verteckt
hielten, wurden aufgespürt und in die "Todesfalle" (diese sensationalistische
Formulierung soll offenbar die nicht mehr haltbare These von "Hinrichtungen"
ersetzen) getrieben. Erneut ergeben sich Ungereimtheiten, denn auf
dem Bebushi-Hügel wurden 23 Leichen gefunden, die, laut Auskunft Shabanis,
allesamt den Männern aus Osmanis Hof zugerechnet werden. Demnach konnten
alle anderen Männer (und nicht nur "die meisten", wie der STERN schreibt),
die in die "Todesfalle" getrieben wurden, entkommen. Aus unerfindlichen
Gründen versagten die serbischen Polizisten bei ihrer angeblichen
Aufgabe, eine "Todesfalle" wirksam anzuwenden. Die einzige Erklärung
für diese Ungereimtheit ist wahrscheinlich, dass die Männer gar
nicht in eine "Todesfalle" gejagt wurden, konkret: dass die angebliche
"Todesfalle" eine Erfindung der STERN-Autoren ist.
Gut neun Stunden lang dauerte die "Polizeiaktion" der Serben an diesem
Freitag in Racak. Zwei serbische Kameraleute der Nachrichtenagentur AP
durften ausgesuchte Szenen des Einsatzes filmen, den - albanischstämmigen
- Kollegen von Reuters wurde der Zutritt zum Dorf verwehrt. Die Fernsehbilder
bestätigen, was Agron und andere Dorfbewohner beobachteten: Polizisten
mit Strickmützen und Kampfanzügen durchstreifen entspannt die
Dorfstraßen, treten hier und da ein Holztor auf, keiner sucht erkennbar
Deckung vor Heckenschützen. Dorfbewohner sind nur vereinzelt zu sehen.
Dafür präsentieren die Serben dem Fernsehteam ein 12,7-Millimeter-
Artilleriegeschütz und rund 30 AK-47-Kalaschnikows, angeblich im Ort
sichergestellt. |
Diese
Interpretation widerspricht den Berichten sowohl von Le Monde als auch
von Le Figaro, die (ebenfalls auf der Basis des AP-Films!) davon berichten,
dass die gesamte Aktion von Feuergefechten begleitet wurde, die vorwiegend
aber nicht ausschliesslich in den umliegenden Wäldern stattfanden.
"Es waren nur vier Schnellfeuergewehre", korrigiert Shukri Buja, 35,
"und die hatten sie frühmorgens in unserer Stellung in den Bergen
erbeutet." Buja ist ein ruhiger Mann, rundliches Gesicht, bedächtiger
Tonfall. Er war damals Kommandant der UCK im Gebiet um Racak, Chef der
Brigade 161, die die Zone "Neredime" zwischen Lipljan, Ferizaj und Stimlje
"verteidigen" sollte. Doch Racak war den Serben ausgeliefert - militärische
Unterlegenheit oder strategisches Kalkül? |
Die Meldung
des freundlichen Ex-Kommandanten der UCK wird vom HRW-Bericht noch übertroffen:
Es waren nur drei Maschinengewehre: According to one Serbian policeman,
when they were finally able to enter the village the police confiscated
three mounted machine guns.
Ex-Kommandant Buja beteuert, er habe mit 700 Leuten gut zwölf
Kilometer Frontlinie sichern müssen. "Doch
für Racak hatte ich gegen 1000 Serben kaum 100 Mann, und
die saßen 1,5 Kilometer weit weg in den Bergen" - mit jenem einzigen
Artilleriegeschütz, das der Gegner "völlig überraschend
schon vor dem Massaker morgens um sechs erobert" habe. "Acht unserer
Soldaten wurden dabei im Gefecht getötet und später auf
dem Heldenfriedhof in Mollopolc begraben." Doch Buja räumt ein, von
der Bedrohung Racaks gewusst zu haben. Das Dorf habe direkt hinter dem
serbischen Polizeistützpunkt in Stimlje "sozusagen auf dem Präsentierteller"
gelegen.
Was der Ex-Kommandant nicht erwähnt: Am 8. Januar hatten seine Leute
am nahe
gelegenen Dulje-Pass drei serbische Polizisten aus dem Hinterhalt erschossen.
Mit
ihrer Guerillataktik hatten die UCK-Kämpfer schon früher grausame
Gegenschläge der Serben-Milizen
an der albanischen Zivilbevölkerung ausgelöst. Kalkulierten sie
eine
solche Reaktion wieder ein, um dann durch weltweite Empörung die Nato
zum Handeln zu zwingen?
Wenige Tage nach dem Massaker meldete die "Washington Post" unter Berufung
auf
US-Abhördienste von Telefonaten zwischen Jugoslawiens stellvertretendem
Ministerpräsidenten Nikola Sainovic und dem Polizeibefehlshaber im
Kosovo, Sreten
Lukic. Dem Bericht zufolge befahl Sainovic, zur Vergeltung für den
Tod der drei
Polizisten "schwer zuzuschlagen". Bald meldeten die KVM-Trupps vor Ort,
die Serben
hätten Panzer auf dem Cesta-Hügel über Racak auffahren lassen.
"Drei Tage vor dem
Massaker gab ich meinen Leuten Anweisung, besonders vorsichtig zu sein",
bestätigt auch der Ex-UCK-Kommandant. Doch Verstärkung orderte
er nicht. "Ich hatte ja noch andere Dörfer entlang der Front zu schützen."
Buja ist heute Mitglied im Führungsgremium der extrem nationalistischen
Partei PDK des damaligen UCK-Führers Hashim Thaci. Der spricht unverhohlen
über die
Provokationsstrategie seiner Truppe, die derzeit in albanischen Hochburgen
Südserbiens eine blutige Neuauflage erlebt: "Jede bewaffnete Aktion,
die wir unternahmen, würde einen Gegenschlag der Serben
nach sich ziehen", sagte er der BBC, "wir wussten, dass wir eine große
Zahl von Zivilistenleben in Gefahr brachten." |
Die gesamte Passage des Gesprächs mit Buja darf als ein Novum in der
deutschsprachigen Berichterstattung gelten. So kritisch wurde, insbesondere
vor und während des NATO-Angriffs, selten nachgefragt. Nicht nur der
Ex-Kommandant verschwieg die Provokationsstrategie der UCK, obwohl dieselbe
in offiziellen Kreisen weithin bekannt war. Diesbezügliche Informationen
waren auch humanitären Organisationen zugänglich, wie der Bericht
von HRW belegt: The January 15 attack might have been provoked by a
well-prepared KLA ambush near Dulje (west of Stimlje) on January 8, in
which three Serbian policeman were killed and one was wounded. On January
10, the KLA ambushed another police patrol in Slivovo (south of Stimlje),
killing one policeman. A Yugoslav Army buildup in the area around Stimlje
ensued over the next four days, especially on the mountain road etween
Dulje and Caraljevo villages.
ES WAR NOCH HELL, als Pepper Tagle und sein Team im orangefarbenen
OSZE-Wagen gegen 17 Uhr nach Racak hineinfuhren. Tagle war Mission Commander,
Leiter einer KVM-Einheit in Suva Reka, 30 Autominuten von Racak entfernt.
Der Amerikaner, pensionierter US-Navy-Mann, hatte das Geschehen in Racak
an jenem Tag mit Kollegen von dem Hügel hinter Stimlje beobachtet,
den die serbische Polizei ihnen zugewiesen hatte: "Wir hörten Feuergefechte,
sahen Rauchwolken durch Artilleriebeschuss, konnten beobachten, wie
Häuser unter Feuer gerieten." Vergebens verlangte Tagle am serbischen
Checkpoint in Stimlje Zugang nach Racak. "Erst als ihre Leute abgezogen
waren, ließen die Serben uns durch." UCK-Kämpfer fand er in
Racak nicht, weder lebende noch tote: "Die hatten das übliche Spiel
gespielt: aus dem Hinterhalt zuschlagen, dann abhauen. Danach überließen
sie ihre Dörfer den Serben. Mit jedem toten Albaner stieg ihre Chance,
die Nato in den Konflikt hineinzuziehen." |
Diese Aussage
widersprechen sowohl der vorhergehenden Beteuerung, dass die serbischen
Polizisten "entspannt" (!) durch das Dorf streifen konnten als auch dem
melodramatischen Portrait einer Begegnung zwischen Polizisten und "wehrlosen"
Dorfbewohnern.
Drei Halbwüchsige kamen Tagle bei der Moschee entgegen. Sie führten
ihn zur Leiche
des 75-jährigen Nazmi Imeri. "Man hatte ihn niederknien lassen und
dann von hinten in
den Kopf geschossen. Die Kugeln hatten die Schädeldecke weggerissen."
Weitere
Leichen fanden die KVM-Beobachter an diesem Abend nicht, vielen Zweiflern
später ein
Indiz für die nächtliche Inszenierung eines Massakers. Doch Dorfbewohner
berichten,
dass die Menschen ihre toten Verwandten sofort nach dem Abzug der Serben
von den
Straßen holten: "Wir brachten sie in die nächstgelegenen Häuser",
sagt etwa Agron
Mehmeti, "um sie vor streunenden Tieren zu schützen." KVM-Mann Tagle
erinnert sich,
dass nur "ganz wenige, völlig verschreckte Menschen" zu sehen waren.
"Nur wer
Verletzte hatte, brachte sie zu uns." Auch die Leichen auf dem Bebushi-Hügel
hatte zu
diesem Zeitpunkt offenbar noch niemand entdeckt. Rame Shabani und die anderen
vier
Überlebenden der Massenerschießung waren in jener Nacht nicht
ins Dorf
zurückgekehrt: "Wir versteckten uns im Wald Richtung Petrovo und wagten
erst am
nächsten Morgen, nach Racak zu gehen." Nur eine kleine Gruppe aufgelöster
Frauen
bat die KVM-Leute abends um Hilfe. "Sie reichten uns einen Zettel mit den
Namen von
über 20 Männern, die die Serben verschleppt hätten. Wir
sollten im Gefängnis der
Nachbarstadt Ferizaj nach ihnen fahnden." Der Mission Commander gab die
Nachricht
an die dortige KVM-Einheit weiter. Es war längst dunkel, als der Befehl
des
KVM-Befehlshabers aus Priztina eintraf, mit den Verwundeten sofort das
Dorf zu
verlassen. Die Lage in Racak sei zu unsicher.
DAS AUSMASS DER TRAGÖDIE wurde erst am nächsten Morgen klar.
Gegen neun
erschienen drei KVM-Männer aus Priztina am Tatort: der deutsche Diplomat
Bernd
Borchardt, der irische Offizier Eamonn Smyth und der Londoner Polizist
Ian Hendrie. 18
Leichen bargen die KVM-Einheiten unten im Dorf. Zwei Tote, die 16-jährige
Hanumshahe Mujota aus Malopoljce (heute Mollopolc) und der 49-jährige
Haqif Hysenaj
aus Petrovo wurden nicht erfasst, weil sie gleich bei Tagesanbruch zu ihren
Verwandten geschafft worden waren. "Auf dem Hügel fanden wir insgesamt
22 Leichen,
eine weitere etwas abseits", sagt Commander Smyth. "Am Boden lagen eine
Menge
Patronenhülsen, praktisch alles AK-47-Munition. Wir prüften,
ob die Leichen bewegt
worden waren. Wir hoben einige der Toten an und sahen Blutlachen unter
ihnen. Die
Leute waren also dort getötet worden, waren umgefallen und liegen
geblieben. Sie von
anderswo herbeizuschaffen, erscheint mir völlig unmöglich. Man
hatte ihnen auch keine
andere Kleidung angezogen. Die Schüsse gingen bei allen durch mehrere
Lagen. Das
kann man nur nachahmen, wenn man noch einmal auf alle schießt." |
Die Behauptung von "Blutlachen" widerspricht den Aussagen von Le Monde,
deren Reporter sich ebenfalls vor Ort aufhielt. Le Monde fragt: "warum
war so wenig Blut in dem Graben, in dem sie angeblich aus nächster
Nähe hingerichtet wurden?"
Der Diplomat Borchardt sah sofort, dass die Toten
"keine Kombattanten" waren: "Viele trugen die halbhohen Gummistiefel
der Bauern. Mit so primitivem Schuhwerk geht keiner in den Wald zum
Kämpfen." Als die drei an jenem Tag Zeugenaussagen sammelten,
gab es wie auch in der Zeit danach nie Unstimmigkeiten. Hier waren
Zivilisten von serbischen Uniformierten ermordet worden. |
"Als die drei an
jenem Tag Zeugenaussagen sammelten, gab es wie auch in der Zeit danach
nie Unstimmigkeiten" diese irreführende Umschreibung der Tatsache,
dass alle Zeugen behaupteten, es habe sich um Zivilisten gehandelt, entspricht
genau der Position der Autoren. Allerdings zeigt ein genauerer Vergleich
verschiedener Berichte, die sich auf (zum Teil dieselben) Augenzeugen stützen,
dass es erhebliche Unstimmigkeiten in den Zeugenaussagen gibt. Einige davon
sind hier bereits aufgelistet worden.
Doch niemand fühlte sich am 16. Januar 1999 autorisiert,
das Gelände abzusperren:
Dorfbewohner suchten nach Angehörigen, UCK-Leute in Kampfmontur waren
aufgetaucht und hielten neben den Toten Wache. Später folgte OSZE-Missionschef
Walker mit seinem Tross und einer Gruppe Journalisten, während über
dem Hügel
Hubschrauber der serbischen Armee kreisten. Die Leichen wurden umgedreht,
durchsucht, mögliche Spuren verwischt. "Erhebliche Schlampereien"
räumte Walker
später ein, "doch wir waren machtlos". |
Hinweise auf die eigene Machtlosigkeit dienen in erster Linie dazu, die
eigene Verantwortlichkeit abzustreiten. Nach demselben Muster verfuhr die
NATO bei ihrer Rechtfertigung des Angriffs auf Jugoslawien: 'Wir konnten
nicht anders es gab keine Alternative' etc. (s.u.).
Machtlos schienen die internationalen Beobachter auch,
als drei Tage später ein
serbisches Einsatzkommando unter Waffengewalt die 40 Toten von Racak aus
der
Aufbahrungshalle der Moschee abtransportieren ließ. Das Massaker
hatte weltweit
Schlagzeilen gemacht. Die jugoslawische Führung, die ein Untersuchungsteam
des
Haager Gerichtshofs an der mazedonischen Grenze abgewiesen hatte, war in
Erklärungszwang: Serbische und weißrussische Pathologen sollten
die Leichen in
Priztina untersuchen und mit dem Autopsiebefund Belgrads Version eines
kriegerischen Gefechts bekräftigen. Erst nach mehrtägigem Gezerre
wurde eine
unparteiische Expertengruppe aus Finnland zugelassen, die im Auftrag der
Europäischen Union eine Woche nach dem Blutbad mit der Autopsie von
zehn Leichen
begann. 14 weitere Obduktionen konnte sie beobachten, 16 nur im Nachhinein
überprüfen.
Der Befund der Finnen, fast zwei Jahre lang von deutschen und europäischen
Behörden wie eine brisante Verschlusssache behandelt und von Gegnern
der Massaker-Version zum Dechiffriercode des Racak-Rätsels hochstilisiert,
brachte wenig zu seiner Klärung:
Die 40 Menschen, konstatierten die Gutachter lapidar, waren etwa zum gleichen
Zeitpunkt durch Gewehrschüsse getötet worden, die ihre Körper
aus verschiedenen
Richtungen und unterschiedlicher Distanz ein- bis 20-mal durchsiebt hatten.
Hinweise
auf Verstümmelungen gab es nicht. Die Köpfe zweier Leichen waren
nicht
abgeschlagen, wie es den Anschein hatte, sondern von Tieren abgerissen
worden.
Fehlende Augen, abgerissene Ohren und andere großflächige Körperwunden
waren
ebenfalls Schussverletzungen zuzuschreiben. Es gebe keine Hinweise, "dass
es sich
bei den Betroffenen nicht um unbewaffnete Zivilisten handelte", umschrieben
die
Pathologen ihr Fazit umständlich. Ob die Leichen wirklich aus Racak
stammten -
"nicht nachprüfbar". Keine der internationalen Organisationen im Kosovo
hatte die
Leichen sichergestellt. Wer aus der Zurückhaltung der Finnen jedoch
ein Bestreiten
des Massakers herauslas, ignorierte, dass sie lediglich obduzieren sollten.
"Wir hatten keine moralischen oder juristischen Beurteilungen abzugeben",
erklärte Pathologieprofessor Antti Penttilä. |
"Es gebe keine Hinweise, "dass es sich bei den Betroffenen nicht um unbewaffnete
Zivilisten handelte", umschrieben die Pathologen ihr Fazit umständlich."
Diese Bemerkung, die aus einer persönlichen Erklärung der Leiterin
des Pathologen-Teams vom 17.3.1999 stammt, eignet sich zur Untermauerung
der Massaker-These. Peinlich ist nur, dass der offizielle Bericht selbst
klarstellt, dass die Frage, ob es sich um Zivilisten handelte, gar nicht
auf der Tagesordnung der EU-Forensiker stand. Auch die Leiterin, Helena
Ranta, hat dies später zugegeben und sprach von einer "missverständlichen"
Aussage (Berliner Zeitung, 24.3.2000). Nur die serbischen Forensiker
waren daran interessiert, und sie fanden an den Händen von 37 Leichen
Schmauchspuren. Die EU-Forensiker bestritten kurzerhand die Autorität
dieser Untersuchung, da eine angeblich veraltete Methode angewandt wurde.
All dies verschweigt der STERN genauso wie die zentrale Tatsache, dass
der pathologische Befund die These einer Hinrichtung nicht stützt.
Stattdessen wird ohne weitere Konkretisierung postuliert, dass "aus der
Zurückhaltung der Finnen
ein Bestreiten des Massakers herausgelesen"
wurde als ob die "Zurückhaltung" des EU-Berichts für die Kritik
der Massaker-These ein Problem darstellte. Das Gegenteil ist vielmehr der
Fall: der Massaker-These wird durch den negativen bzw. fehlenden Befund
die Grundlage entzogen. Ihre Befürworter können sich nur noch
auf Aussagen von diversen Augenzeugen stützen, und diese Aussagen
stimmen an wichtigen Punkten nicht überein, wie wir gesehen haben.
Der neue Friedhof über dem Ortseingang von Racak
ist weithin sichtbar, ein Gelände
mit 42 Grabhügeln unter hellen Plastikblumen und den blutroten Fahnen
der
Kosovo-Albaner. Krähen krächzen von den Bäumen. Ein Baby
liegt hier neben den
Ermordeten begraben. Es starb an den Folgen einer Unterkühlung auf
der Flucht nach
dem Massaker. Das Grab von Sahide Metushi steht noch offen, die Leiche
der Bäuerin
wurde nie gefunden. Hyra Mehmeti kommt jeden Tag, um Mann und Tochter zu
beweinen. Jeder im Dorf hat hier mindestens einen Familienangehörigen
zu beklagen.
Für viele haben die Toten längst den Status von Märtyrern.
Das Bedürfnis nach
Vergeltung ist fast mit Händen zu greifen.
Seit Januar wird dem 32-jährigen Serben Zoran Stanojevic in Priztina
der Prozess gemacht. Der Ex-Polizist aus Stimlje
ist bislang der einzige Angeklagte, der sich für
das Verbrechen in Racak verantworten muss. Von den anderen Tätern
fehlt jede Spur,
die meisten von Stanojevics Kollegen sind längst in Serbien untergetaucht.
Das
Gericht, in dem unter Leitung einer polnischen UN-Richterin albanische
Juristen und
Beisitzer anderer Nationalitäten gemeinsam tagen, tut sich schwer
mit der
Wahrheitsfindung. Es gibt zwei Zeugen aus Racak, die den Angeklagten belasten:
Destan Rashiti, 34, und sein Freund Nazmi Mahmuti, 27, wollen gesehen haben,
wie
Stanojevic als Erster einer Gruppe Polizisten aus etwa 70 Meter Entfernung
von einer
Anhöhe auf sie schoss. Der 58-jährige Hajriz Brahimi, mit dem
sie hinter einer
Hauswand Deckung gesucht hatten, sei von einer Kugel aus Stanojevics Gewehr
im
Kopf getroffen und getötet worden. Die anderen Täter hätten
Masken getragen, geben
die beiden an, "doch Zoran erkannten wir sofort". Mahmuti: "Er war oft
bei uns zu Gast
mit seiner albanischen Frau und lieh sich mal mein Auto."
Die albanischen Untersuchungsrichter haben schlampig gearbeitet, die Aussage
der beiden Zeugen unüberprüft als einzige Beweisgrundlage
angeführt. Und die verwickeln
sich in Widersprüche. "Die lokalen Justizvertreter tun sich schwer
mit den Prinzipien
der Rechtsstaatlichkeit", klagen ihre UN-Kollegen hinter vorgehaltener
Hand, "da
scheint der Wunsch nach Rache oft stärker als der nach Gerechtigkeit:
Der Mann ist
serbischer Polizist, war sicher beim Massaker dabei - und ist der Einzige,
den wir
haben: Also ist der Mann schuldig."
Auch der Angeklagte, ein schmaler Riese mit widerborstigem Haar, trägt
wenig zur Klärung bei. Er sei am fraglichen Tag im Dienst
am Checkpoint bei Crnoljevo gewesen,
knapp sechs Kilometer von Racak entfernt. Zeugen für sein Alibi will
er nicht benennen: Seine
Kollegen seien alle in Serbien und hätten Angst, verhaftet zu werden,
wenn sie
zurückkehrten, um auszusagen. Warum er selbst nicht auch das Kosovo
verlassen
habe, will die Richterin wissen: "Ich bin sauber", sagt er. "Und mit einer
Albanerin
verheiratet: Wenn man mich anklagt, diesen Menschen getötet zu haben,
ist das, als
hätte ich auch meine eigene Frau getötet." Kennt er Leute aus
Racak, kennt er die
Männer, die gegen ihn aussagen, wird der Serbe später gefragt:
"Ich kenne viele
Gesichter, aber keine Namen." Das sei wie mit den Verwandten seiner Frau:
"Wichtig
war, dass die meinen Namen wissen - und nicht umgekehrt." Der Tumult in
den
Besucherreihen des kleinen Gerichtssaals von Priztina ist nach derlei Ausfällen
des
Angeklagten kaum zu bändigen.
Mehr als zwei Jahre nach dem Massaker von Racak ist Gerechtigkeit noch
ein fernes Ziel. Zwar ist nun auch der Hauptverantwortliche für Serbiens
Politik der ethnischen
Säuberung hinter Gittern. Doch die Kriegsverbrechen des Slobodan Milosevic
zählen
vorerst nicht zu den Anklagepunkten in Belgrad. |
Fazit: STERN-Chefredatkeur
Andreas Petzold preist den Artikel in seiner Einleitung zu Heft 15 mit
den Worten an: "stern-Reporterin Daniela Horvath war in Racak. Ihr Kollege
Mario R. Dederichs sprach mit UN-Beobachtern und Nato-Diplomaten. Wochenlang
haben sie recherchiert und Dokumente zusammengetragen." So weit, so gut.
Petzold schliesst jedoch mit einer Lüge: "Am Ende besteht kein Zweifel
mehr, dass hier albanische Zivilisten von serbischen Milizen hingerichtet
wurden." De facto bringt der Artikel gegenüber den Reportagen der
letzten 2 Jahre keinen einzigen Erkenntnisfortschritt. Im Gegenteil: ebenso
wie die zentrale These einer "Hinrichtung" vom Bericht der EU-Forensiker
nicht bestätigt wird, bieten auch die Erzählungen der Augenzeugen
des STERN, trotz aller grausamen Details, keinen Beleg für diese These,
auch wenn der zentrale Zeuge, Rame Shabani, mehrfach als "Überlebender
eines Massakers" präsentiert wird. Der Vergleich mit älteren
Berichten ergibt vielmehr auffallende Veränderungen in der Beschreibung
des Tathergangs, die im Endeffekt die Massaker-These abschwächen.
Es bleiben Unklarheiten im Detail, auf die es gerade an den entscheidenden
Punkten ankommt, Ungereimtheiten im Vergleich mit dem ausführlichen
Bericht von Human Rights Watch und der Eindruck, dass es den Autoren in
erster Linie um eine nachträgliche Rechtfertigung des verbrecherischen
NATO-Angriffs ging. Chefredakteur Petzold scheut sich daher auch nicht,
die altbekannten anti-serbischen Legenden wieder hervorzuholen: "Wahr ist:
Zu diesem Krieg gab es am Ende der Verhandlungen mit Belgrad keine Alternative.
Milosevic hat mit dem Terror der Diktatur, religiös verbrämtem
Rassismus und drei Kriegen versucht, sich seinen großserbischen Traum
zu erfüllen. Er ließ brandschatzen und morden, bis er diesen
Krieg bekam." Mit anderen Worten: nicht die NATO hat Jugoslawien angegriffen,
sondern war Milosevic derjenige, der Krieg führte. Oder kurz und bündig:
Krieg ist Frieden. |