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Heft 05/2000

   Ehre, Euer Ehren

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*   Oliver Tolmein
Die Grenzen der Kritik an Kriegsherren und Kriegspropaganda sind eng, wie Gerichtsentscheidungen in Berlin und London zeigen

Rudolf Scharping ist als Minister im Bundeskabinett zuständig für eine Armee, die noch nicht gegen einen nach Deutschland eindringenden Feind eingesetzt werden konnte, wohl aber in Kampfeinsätzen out of area. Trotzdem wird der als SPD-Vorsitzender und Kanzlerkandidat gescheiterte Politiker als Minister der Verteidigung geführt. Er hat als Verantwortlicher des deutschen Militärkontingents bei den Angriffen der Nato auf die Bundesrepublik Jugoslawien an herausragender Stelle mitgewirkt. In der internationalen Öffentlichkeit ist er als engagierter Befürworter dieses vom UN-Sicherheitsrat nicht legitimierten Kriegs in Erscheinung getreten, in dessen Verlauf Nato-Truppen die Botschaft der VR China in Belgrad zerstört haben. Sie haben an vier verschiedenen Stellen, über eine Strecke von zwölf Meilen, auf der Straße von Prizren nach Djakovica einen Flüchtlingstreck angegriffen und dabei 74 Menschen getötet. Sie haben eine serbische Fernsehstation in Belgrad angegriffen und zerstört. Auch gezielte Angriffe gegen Fabriken und Versorgungseinrichtungen der zivilen Infrastruktur wurden mehrfach geflogen. Außerdem hat die Nato uranhaltige Waffen und Clusterbomben eingesetzt. Vieles spricht dafür, daß sie insbesondere mit ihren Einsätzen gegen zivile Ziele gegen das Kriegsrecht, wie es in den Genfer Abkommen und den beiden Zusatzprotokollen kodifiziert ist, verstoßen haben. Verstöße gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges sind nach Artikel 3 des Statuts des Internationalen Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) Straftaten, die verfolgt werden können, sofern sie nach 1991 im Hoheitsgebiet des ehemaligen Jugoslawien begangen wurden. Eine internationale Vereinigung, in der überwiegend Rechtswissenschaftler und Anwälte aus Commonwealth-Staaten aktiv sind, hat deswegen bereits im letzten Jahr ein Dossier zusammengestellt, das der Chefanklägerin des ICTY als Grundlage für eine Anklage gegen die Verantwortlichen dienen soll.

Individuell verantwortlich für eine Tat im Krieg ist nach Artikel 7 des ICTY-Statuts »wer ein Verbrechen geplant, angeordnet, begangen oder dazu angestiftet oder auf andere Weise zur Planung, Vorbereitung oder Ausführung des Verbrechens Beihilfe geleistet hat«. Ein Minister, der den Oberbefehl über die Streitkräfte seines Landes hat und an der Gesamtplanung des Nato-Einsatzes beteiligt war, ist damit individuell verantwortlich für das, was die Truppen tun. Damit wäre er denn auch, wenn sich die Verstöße gegen das Kriegsrecht zu Kriegsverbrechen summieren, ein Kriegsverbrecher. Vorausgesetzt, er ist nicht gerade deutscher Verteidigungsminister. Rudolf Scharping nämlich darf, ebenso wie Joschka Fischer oder Gerhard Schröder, nicht als Kriegsverbrecher bezeichnet werden, wie das Oberverwaltungsgericht Berlin am 16. März 2000 beschlossen hat (Az.: OVG 1 SN 87.99).

In dem Berliner Verfahren mußten die Richter über die Rechtmäßigkeit eines Polizeieinsatzes entscheiden, in dessen Verlauf ein Wandbild übermalt wurde, auf dem Joschka Fischer, Bill Clinton, Madeleine Albright, Rudolf Scharping, Gerhard Schröder und Slobodan Milosevic als »Kriegsverbrecher« bezeichnet und dargestellt waren. Das Gericht unterstellt in seinem Beschluß, daß »der Antragsteller nicht etwa behaupten (wollte), die gezeigten Personen seien jeweils wegen Kriegsverbrechen rechtskräftig verurteilt oder hätten sich zumindest solcher Taten schuldig gemacht. Auf die Richtigkeit der Tatsachenbehauptung, die in der bekanntgegebenen Äußerung auch gesehen werden könnte, kommt es somit im vorliegenden Verfahren nicht an.«

Daß es für die Frage ob man einen Kriegsverbrecher Kriegsverbrecher nennen darf, nicht von Bedeutung sein soll, ob er ein Kriegsverbrecher ist, scheint ein bemerkenswertes Zugeständnis des Gerichts an die Meinungsfreiheit und damit an die Angeklagten zu sein - ist es faktisch aber auch wieder nicht: In heiklen Fragen ziehen sich deutsche Gerichte gerne darauf zurück, daß es auf die Wahrheit in dem einen oder anderen konkreten Punkt nicht ankomme, weil der Prozeß eine ganz andere rechtliche Frage zum Inhalt habe. Im Fall der sechs an die Wand gemalten Politiker ist nach Auffassung des Richter-Triumvirats alles eine Frage der Ehre: »In der Bezeichnung ›Kriegsverbrecher‹ lag ein schwerwiegender Angriff auf die persönliche Ehre der Betroffenen. Auch dann, wenn mit dieser Bezeichnung nicht zum Ausdruck gebracht werden sollte, die Betroffenen hätten tatsächlich Kriegsverbrechen begangen, beinhaltete die Gleichsetzung mit anderen Kriegsverbrechern eine tiefe Kränkung, die auch als Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung nicht mehr durch Artikel 5 Absatz 1 GG gedeckt war.« Wen das Gericht hier mit »anderen Kriegsverbrechern« meint, bleibt offen - ein nicht ganz unwesentliches Detail, ist doch die Gleichsetzung mit diesen der entscheidende Grund dafür, daß das Bild nicht als Ausdruck der Meinungsfreiheit geduldet wird. Ist es Milosevic, gegen den das Den Haager Kriegsverbrechertribunal zwar Anklage erhoben hat, der aber ebenfalls nicht verurteilt worden ist und deswegen im rechtlichen Sinn als unschuldig zu gelten hat? Oder sind es ganz andere Personen, »wirkliche« Kriegsverbrecher? Aber wer sollte das sein, wo es doch »auf die Richtigkeit der Tatsachenbehauptung nicht ankommt«?

Der Berliner Beschluß, der unanfechtbar ist (gegen den aber Verfassungsbeschwerde eingelegt werden kann), besticht durch seinen apodiktischen Gestus, der auf jegliches Argument verzichtet. Die für die Entwicklung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit zentrale »Soldaten sind Mörder«-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird zwar mehrfach zitiert - aber die Fundstellen sind stets falsch angegeben. Auch sonst spricht einiges dafür, daß die Berliner Richter sich nicht die Mühe gemacht haben, den höchstrichterlichen Text, auf den sie sich berufen, noch einmal zu lesen. Das Bundesverfassungsgericht verlangt, was ihr Beschluß an keiner Stelle leistet, eine sorgfältige und präzise Abwägung der gegeneinanderstehenden Grundrechte - im aktuellen Fall Meinungsfreiheit und aus dem Persönlichkeitsrecht abgeleiteter Ehrschutz. Der Ehrschutz darf aber, stellten die Verfassungsrichter fest, »nicht dazu führen, staatliche Einrichtungen gegen öffentliche Kritik, unter Umständen auch in scharfer Form, abzuschirmen, die von dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit in besonderer Weise gewährleistet werden soll«.

Nun sind Scharping, Schröder und Fischer keine staatliche Einrichtung - sie sind aber auch nicht nur eine kleine Männergruppe, die friedlich ihren Hobbies Radfahren, Marathon und Schnitzelessen frönt. Kritisiert wurden sie als Verantwortliche für einen Kriegseinsatz der Bundeswehr, der Soldaten, wenn auch nicht im rechtstechnischen Sinn des Paragraphen 211 StGB, zu Mördern hat werden lassen. Die persönliche Kränkung, die die drei aus der Kommandozentrale dadurch erfahren haben, daß man den Krieg als Verbrechen und sie folglich als Kriegsverbrecher bezeichnet hat, mag tief gewesen sein - im Ergebnis aber wenigstens nicht blutig und lebensbedrohend wie das von ihnen zu verantwortende Handeln der Bundeswehr.

Daß der Spruch der Verwaltungsrichter aus der Reichshauptstadt just in den Tagen gefällt wurde, als sich der »Hufeisenplan« als Geheimdienst-Fake herausstellte, läßt die Justiz in noch trüberem Licht erscheinen. Es mag zudem paradox erscheinen, daß ein Krieg, der geführt worden sein soll, um Menschenrechte in ausländischen Staaten zu sichern, im Ergebnis dazu führt, daß Grundrechte im eigenen Staat eingeschränkt werden. Andererseits ist es durchaus folgerichtig, daß in einer Gesellschaft, in der das Soldatische seinen Platz zurückerobert und Krieg wieder zum probaten Mittel der Politik wird, der Ehrschutz gegenüber der Meinungsfreiheit an Terrain gewinnt. Charakteristisch für die Verfaßtheit der Berliner Republik ist jedenfalls nicht allein das Urteil, mit dem die eine Staatsgewalt die andere gegen Kritik abschirmt. Bedenklicher ist das formierte Desinteresse, auf das dieser Vorgang in der Öffentlichkeit stieß - in einer Öffentlichkeit, deren maßgebliche Protagonisten zwar gerade zerknirscht »Fehler« in der Kosovo-Kriegsberichterstattung eingeräumt und eine gewisse Leichtfertigkeit bei der Übernahme der Nato-Propaganda zugestanden haben. Jetzt allerdings, da anderen, weniger Leichtgläubigen, die Meinungsfreiheit beschnitten wurde, blieb die halbherzige Selbstkritik ohne weitere Konsequenz.

Daß Krieg das Ehrgefühl stärkt und die Verletzlichkeiten vergrößert, wurde auch in England offensichtlich, wo der High Court in London ein Verfahren entschied, das ebenfalls die Meinungsfreiheit erheblich beschnitten hat. Auch in London hat das Verfahren die Ansicht, die Serben seien nicht die modernen Wiedergänger der Nationalsozialisten, unterliegen lassen. Damit sind die Parallelen allerdings bereits erschöpft. Zum einen fand der Prozeß nach englischem Recht unter reger und kontroverser Anteilnahme der Öffentlichkeit statt. Die Kläger bekleiden auch keine Regierungsämter, sondern sind selber Journalisten. Vor allem aber ist das Verfahren in dieser Form nur aufgrund der Besonderheiten des englischen Libel-Law (etwa: »Verleumdungs-Recht«) möglich gewesen, das dem Ehrschutz prinzipiell erheblich mehr Raum gibt als das deutsche Recht. Grundproblem des englischen Libel-Law ist, daß es unterstellt, eine Behauptung, die jemanden in seiner Ehre verletzt, sei grundsätzlich falsch - der meistens schwer zu führende Nachweis ihrer Richtigkeit obliegt mithin dem Beklagten. Diese Beweislastumkehr (üblicherweise muß die Schuld des Beklagten nachgewiesen werden) führte dazu, daß 1995 ein US-amerikanisches Bundesgericht entschied, Schadenersatzansprüche aus englischen Libel-Law-Verfahren könnten in den USA nicht durchgesetzt werden, weil das englische Libel-Law gegen grundlegende Rechte auf Meinungsfreiheit und faires Verfahren verstieße.

Im Fall Independent Television Network (ITN) gegen die Zeitschrift »LM« (früher »Living Marxism«) ging es um einen Artikel, den der deutsche Journalist Thomas Deichmann in dem linken Blatt veröffentlicht hatte: »The picture that fooled the world« (deutsche Fassungen des Textes sind in KONKRET 3/97 und in »Novo« 1/97 erschienen). Deichmann erläutert in dem Text eingehend, daß Bilder einer ITN-Reportage über das von Serben während des Bosnien-Kriegs eingerichtete Lager Trnopolje, die einen ausgemergelten Mann hinter Stacheldraht zeigen, einen falschen Eindruck hervorrufen, weil nicht der Mann hinter Stacheldraht gestanden, sondern das Film-Team innerhalb eines von Stacheldraht umgebenen Geländes Position bezogen habe, um die Aufnahmen dramatischer zu gestalten. »Das Material, das an Material aus den Nazi-Konzentrationslagern erinnerte, bewirkte einen internationalen Aufschrei und führte dazu, daß sich das militärische Engagement des Westens beschleunigte«, resümierte die Prozeßberichterstatterin des britischen »Guardian« die Wirkung dieser Einstellung. »The Guardian« war in den Rechtsstreit am Rande involviert, weil einer seiner Mitarbeiter, der Balkan-Experte Ed Vulliamy, das Filmteam bei den Dreharbeiten begleitet hatte.

Im Verfahren selbst war allerdings nicht die Frage entscheidend, ob der Stacheldraht die Menschen im Lager einzäunte oder ob er ein Areal am Rand des Lagers begrenzte. Die Kläger argumentierten, Deichmanns Bericht verleumde sie, indem er unterstelle, sie hätten die Fernsehaufnahmen in der Absicht gemacht, die Welt zu täuschen und den falschen Eindruck zu erwecken, daß das Lager Trnopolje einem Nazi-KZ gleiche. In dem Verfahren mußte also zum einen geklärt werden, ob Deichmanns Bericht bei unbefangenen Lesern den Eindruck erwecken konnte, daß die ITN-Journalisten die Weltöffentlichkeit täuschen wollten. Das wurde bejaht. In einem zweiten Schritt ging es dann darum, ob Deichmann bzw. »LM« diese Täuschungs-Absicht der ITN-Journalisten beweisen konnten. Da über Motive und Absichten anderer Leute schwer Beweis zu führen ist und die ITN-Mitarbeiter eine Täuschungsabsicht verneinten, wurde »LM« verurteilt: Die Fernsehjournalisten erhielten je 150.000 Pfund Schadenersatz zugesprochen, ITN 75.000 Pfund. Außerdem muß »LM« die Anwaltskosten der Kläger zahlen, was mit weiteren 300.000 Pfund zu Buche schlägt. Damit ist das Blatt bankrott und muß sein Erscheinen einstellen.

Dieses Ergebnis war nach englischem Recht zu erwarten - und wirft erneut die Frage auf, inwieweit das englische Libel-Law mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit vereinbar ist, wie es in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegt und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte konkretisiert worden ist. Diese Frage wird voraussichtlich in den nächsten Jahren mit dem Verfahren von McDonald's gegen zwei Greenpeace-Aktivisten entschieden werden: Der Fastfood-Konzern fühlte sich durch Flugblätter verleumdet, die ihm die Zerstörung des Regenwaldes, Ausbeutung seiner Beschäftigten, Kinderarbeit, Verantwortung für Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebserkrankungen bei seinen Kunden vorwarfen. Mit dem vorläufigen Ergebnis, das McDonald's nach mehr als dreihundert Verhandlungstagen in fast sechs Jahren an einigen Punkten recht gibt, wollen sich die Umwelt-Aktivisten nicht abfinden - derzeit appellieren sie vor dem House of Lords, sind aber auch entschlossen, zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen.

In dem Verfahren ITN vs. »LM« geht es aber nicht nur um juristische Aspekte und das britische Libel-Law. Deswegen schlußfolgern ITN und etliche Prozeßberichterstatter, daß das Gericht mit seinem Urteil ihre Version der Situation im Lager Trnopolje bestätigt und dem »Revisionismus« Deichmanns eine Absage erteilt habe, während Deichmann und »LM« meinen, daß sie zwar aus rechtlichen Gründen verloren hätten, im Verlauf des Verfahrens aber »eindeutig bewiesen« worden sei, daß das Lager keineswegs mit Stacheldraht umzäunt und kein KZ war. Der Streit um die Wahrheit von Trnopolje ist auch ein Streit über die Perspektive kritischer Berichterstattung in Kriegszeiten, ein Streit darüber, ob ein inszeniertes Bild wahr sein kann und inwieweit Reporter für den Eindruck verantwortlich sind, den bestimmte Bilder und Texte bei den Medienkonsumenten auslösen.

Es ist daher sinnvoll, sich Deichmanns Artikel, den KONKRET in redigierter Fassung nachdruckte, noch einmal zu vergegenwärtigen. Deichmann eröffnet seine Geschichte im »Novo«-Original mit dem Satz: »Es dauerte einige Tage, bis ich selbst daran glauben wollte: Das wohl bekannteste Bild ... des Bosnienkrieges ... war eine Täuschung.« Das Stilmittel, sich, den späteren Entdecker einer Manipulation, als bis dato gläubigen Thomas zu charakterisieren, verwendet Deichmann im folgenden noch einige Male. Als er seine Tätigkeit für die Kanzlei beschreibt, die den später in Den Haag verurteilten Kriegsverbrecher Dusko Tadic verteidigt, betont der Chefredakteur des »Linkswende«-Organs »Novo«: »Meine Aufgabe für die Kanzlei war zunächst einzig und allein, einen inhaltlich neutralen und sachlichen Bericht zu verfassen und später im Gerichtssaal darüber zu referieren, wie oft Bilder des Angeklagten Tadic in den deutschen Medien gezeigt wurden.« Später, nachdem, wie er mitteilt, nicht ihm selbst, sondern seiner Frau ein Detail der Bilder aus Trnopolje aufgefallen war, nämlich daß der Stacheldraht auf der den vermeintlich Eingezäunten zugewendeten Seite befestigt war, reist Deichmann »mit einem etwas mulmigen Gefühl im Bauch, immer noch gehörigen Zweifeln an der Richtigkeit meiner Vermutung und der Befürchtung, möglicherweise umsonst eine Reise nach Bosnien aus eigener Tasche zu finanzieren«, nach Trnopolje und findet dort bestätigt, was »ich nie zu träumen gewagt« hätte. Für die Fakten, die Deichmann präsentiert, um nachzuweisen, daß der Stacheldraht nicht die Menschen im Lager gefangen hielt, sondern dem Filmteam eine gute Kulisse bot, ist es selbstverständlich unerheblich, was er geträumt und wer ihn auf welches Detail aufmerksam gemacht hat.

Deichmann geht es aber um mehr als um die Entdramatisierung der Darstellung von Trnopolje in diesem einen, wichtigen Punkt. Er will nicht nur gegen die fatale Gleichsetzung von deutschen KZs und den Lagern in Bosnien anschreiben, die mit Hilfe der ITN-Bilder etabliert wurde, sondern belegen, daß es sich bei Trnopolje »nicht um ein Internierungs- oder Gefangenenlager gehandelt habe, sondern um ein Sammelzentrum für vertriebene Muslime«, das »eine gewisse Schutzfunktion« hatte. Weil es dabei nicht nur um Fakten, sondern auch um deren Einordnung und Bewertung geht, ist es wichtig, sich selbst als unvoreingenommenen, von Anfang an nur der Wahrheit verpflichteten Reporter zu präsentieren. Die Recherche selber, soweit sie aus Deichmanns Bericht ersichtlich wird, belegt diesen Eindruck nicht: Fakten zur Stützung seiner Position hat er wenige; überwiegend beruft er sich auf Gespräche mit Anwohnern des Lagers und auf in dessen Betrieb involvierte bosnische Serben. Mit Muslimen, die in den Lagern gelebt haben, hat er nicht gesprochen. Und das was ihm seine Augenzeugen berichten, gewichtet er nicht kritisch, sondern ergänzt es durch idyllisierende Informationen: »Igor, der ... sich von mir eine Tafel Nestle-Vollmilchschokolade wünschte, ... hat sich während des Krieges mit einem kenianischen Blauhelmsoldaten angefreundet, der ihm Englischunterricht gab.« Daß es in den Trnopolje zu schweren Menschenrechtsverletzungen kam, daß dort etliche Menschen ermordet und mißhandelt, Mädchen und Frauen vergewaltigt wurden, leugnet Deichmann nicht - er relativiert diese Tatsachen aber: Es seien »extremistische Serben« gewesen, die Deichmann nie ohne ihr Gegenstück, die »extremistischen Muslime«, präsentiert, die von außen »ins Lager einfiel(en)«. Deichmann schreibt von »schwarzen Schafen« und liefert eine bemerkenswerte Analyse des Konflikt: »In diesen Tagen im Mai ergab so eins das andere, und der Konflikt eskalierte.« - »Meine Nachforschungen ließen mich völlig unvoreingenommen zu dem Schluß kommen, daß die Bezeichnung dieses Ortes als Internierungs-, Gefangenen- oder gar Konzentrationslager ... jeglicher Grundlage entbehrt ... Hätte es dieses Sammelzentrum für Vertriebene ... und den Schutz durch bosnisch-serbische Soldaten nicht gegeben, hätten wohl weitaus mehr schutzlose muslimische Zivilisten ihr Leben verloren.«

Schutzhaft soll es also gewesen sein im Lager Trnopolje, zum Wohle derer, die darin gelitten haben. In dem Londoner Verfahren gegen »LM« sagte der bosnisch-muslimische Arzt Idriz Merdzanic aus, der 1992 zusammen mit anderen Ärzten gegen seinen Willen nach Trnopolje verschleppt worden war und der dem ITN-Team damals heimlich gemachte Fotos mißhandelter Lagerinsassen übergeben hatte. Seine Aussagen über Folter und die Verhältnisse im Lager sind mit der Schutzhaft-These Deichmanns und mit der Behauptung, daß alles Böse in Trnopolje von außen oder wenigen »schwarzen Schafen« im Lager ausging, unvereinbar. Merdzanic stellte ausdrücklich fest, daß sich nach der Ausstrahlung, also wohl auch infolge des Fernsehberichts von ITN die Verhältnisse im Lager gebessert hätten. Deichmann schreibt über Merdzanics Aussage in einem langen Artikel in der »Jungen Welt«: »Der Arzt berichtete von Vergewaltigungen und Übergriffen auf wehrlose Zivilisten - Fakten, die von mir niemals bestritten wurden. Seine Aussage war zweifelsohne die bewegendste während des gesamten Verfahrens. Mein Eindruck war jedoch, daß damit die Jury beeindruckt und ein paar Moralpunkte für ›LM‹ eingestrichen werden sollten. ›LM‹-Anwalt Millar verzichtete auf ein Kreuzverhör, und die später an mich gerichtete Frage, ob ich dem Arzt widersprechen wollte, verneinte ich.«

Vieles spricht dafür, daß Deichmann in seinem Bericht über »das Bild, das die Welt getäuscht hat«, tatsächlich eine dramatisierende Verzerrung aufdecken konnte. Daß sein Bericht als Ganzes dazu beigetragen hat, die Wahrheit über das Lager Trnopolje zutage zu fördern, ist dagegen unwahrscheinlich.

Von Oliver Tolmein ist gerade das Buch »Welt Macht Recht - Konflikte im internationalen System nach dem Kosovo-Krieg« erschienen. Seine Homepage hat die Adresse: www.tolmein.de
 


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