Gastkommentar
 
Gastkommentar im Spiegel vom 17.2.2003; aus spiegel-online

Schröder, der große Ablenker

Von Christoph Keese
Chefredakteur der Financial Times Deutschland
 

Gastkommentar auf MAI dazu von Jens Niestroj:

Bei diesem Kommentar von Herrn Keese habe ich mir verwundert die Augen gerieben.

So so, die Demonstrationen in Deutschland (vielleicht auch sogar die weltweit) wurden von Schröder veranlaßt! Denn wie schreibt Herr Keese einleitend: „Am Samstag hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder beim Blick aus seinem Amt zum Brandenburger Tor allen Grund zur Freude: Eine halbe Million Menschen demonstrierte gegen einen Krieg in Irak. Schröder ist es gelungen ...“
Kein Wort davon, dass die Demos, wie auch die anderen weltweit bereits im Herbst letzten Jahres vereinbart worden. Kein Wort davon, dass Herr Schröder die Mitglieder seines Kabinetts und seiner Partei dazu aufgerufen hat, eben nicht an der Demonstration teilzunehmen. Kein Wort davon, dass ein ziemlich großer Teil der Demonstranten der Bundesregierung Doppelzüngigkeit vorgeworfen hat (mit Worten gegen den Krieg, mit Taten dafür).

Aber weiter im Text: „Ähnlich funktioniert jetzt Schröders Irak-Inszenierung. Der Kanzler tut so, als ginge es um Krieg oder Frieden, als stünde ein Aggressor namens USA vor der Invasion in ein unschuldiges Irak.“ Wirklich verwunderlich. Wie kommentiert Herr Keese die Tatsache, dass 10% der spanischen Bevölkerung gegen den Krieg demonstriert haben? Durch Schröders Ablenkungsmanöver???

Aber gut, wir müssen lernen, dass der normalsterbliche Bürger – im Gegensatz zur Journalie und im Gegensatz zur weisen US-Regierung – einfach nur blöd und von Propaganda einfach zu beeinflussen ist. Denn wie schreibt Herr Keese weiter:
„Dass Menschen dagegen demonstrieren, ist ehrenhaft. ... Schröder spitzt die Debatte auf einen Scheinkonflikt zu und stabilisiert damit unweigerlich Saddam Hussein, der die Demonstrationen politisch ausweiden wird - womit dem deutschen Kanzler das diplomatische Kunststück gelingt, mit denselben Fakten und in dieselbe Richtung zu argumentieren wie der Diktator in Bagdad.“
Und das wiederum, hat Herr Keese vergessen direkt zu schreiben, ist unehrenhaft. Mit anderen Worten: Die Masse der Menschen im Westen handelt unehrenhaft. Haben sich die Aristrokraten angesichts der Einführung der Demokratie wohl auch gesagt ...
 

Noch eine kurze Bemerkung am Ende. Es ist ja seit Ende 1989 im Mode, in der „freien Presse“ politisch linke Motive und Ideen (Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit) in den Schmutz zu ziehen. Na ja, „geh doch rüber“, können sie jetzt nicht mehr sagen.
Herr Keese argumentiert wie folgt:
„Die vielen Menschen, die jetzt in Berlin und anderen Städten protestieren, meinen es ernst, nicht weniger ernst, als meine Freunde und ich es 1981 im Bonner Hofgarten gemeint haben. Damals ging es um Nato-Doppelbeschluss und Pershing-Raketen. Ich war fest davon überzeugt, dass wir in einen Atomkrieg stürzen würden, wenn die USA ein Gegengewicht zu den sowjetischen SS-20 in Deutschland installieren dürften.“
Ok, der Atomkrieg ist nicht gekommen, obwohl das „Gegengewicht“ (so weit ich mit entsinnen kann, waren die Pershings und Marschflugkörper nicht gerade ein Gegengewicht, sondern qualitativ andere Waffen, als die sowjetischen, dies aber nur am Rande) gekommen ist, so will Herr Keese wohl sagen, kam es nicht zum Atomkrieg. Aber damals, vor 20 Jahren war er ja noch jung und naiv. Heute dagegen blickt er die Zusammenhänge und erkennt: Natürlich wird es keine Instabilitäten in Nahost geben, natürlich sind die Kriegsängste der Bevölkerung vollkommen übertrieben. Die Friedensdemonstrannten, sind eben dumm und naiv.
Ich frage mich nur, warum Herr Keese nicht Manns genung ist, derartige Aussagen klar und deutlich aufzuschreiben...