Fundsache im Gästebuch der Grünen:
 
Eintrag vom 19.05.1999 von ohne Vornamen (ohne E-Mail)

Sehr geehrte Damen und Herren!

Am 7.5.99 fand in der Stadthalle Heinsberg eine "Diskussionsveranstaltung" zum Kosovo-Krieg statt. Ich hatte diese Veranstaltung besucht und erwartet, daß - wie bei den Grünen bisher üblich - lebhaft über dieses Thema diskutiert würde. Deshalb war ich maßlos enttäuscht, daß eine Diskussion praktisch nicht stattfand. Nachdem die vier Damen und Herren am "Podium" ihre Standpunkte ziemlich langatmig begründet hatten - die Ausführlichkeit wurde sogar von der Diskussionsleiterin vorsichtig kritisiert - , erhielt das Publikum Gelegenheit sich zu äußern. Daraufhin wurden zahlreiche beachtliche und intelligente Einwände und Bedenken gegen den Krieg vorgebracht, den die NATO in Jugoslawien z. Zt. führt. Weder Frau Müller noch Frau Nickels gingen aber auf diese Einwände und Bedenken ein. Sie hörten sich das alles stumm an. Ich hatte das Gefühl, sie waren sogar froh, daß sie nicht dazu Stellung zu nehmen brauchten. Nicht einmal zwischen den Damen und Herren am "Podium" kam es zu einer wirklichen Diskussion. Als ich kurz vor dem Ende der Veranstaltung die Diskussionsleiterin fragte, ob noch damit zu rechnen sei, daß Frau Müller und Frau Nickels zu den vielen Einwänden Stellung nehmen, erhielt ich zur Antwort, dies sei jetzt beabsichtigt. Daraufhin erhielt allerdings nur Frau Müller noch einmal das Wort. Sie wiederholte aber im wesentlichen nur das, was sie bereits zu Beginn der Veranstaltung gesagt hatte. Sie ging auf keinen einzigen, aus dem Publikum vorgebrachten Einwand ein. Z.B. den Einwand, welchen Sinn die Bombardierung von Brücken mit den darauf befindlichen Menschen haben soll und wie man derart offensichtlich sinnlose Angriffe rechtfertigen kann. Soll das in Zukunft die berühmte "Streitkultur" der Grünen sein? Ich hatte den Eindruck, die ganze Veranstaltung hatte ausschließlich den Zweck, den Parteimitgliedern, die mit de Politik von Außenminister Fischer u. Co. nicht einverstanden sind, Gelegenheit zu ge-ben, einmal "Dampf abzulassen".

Da ich nicht Mitglied der Partei "Bündnis 90/Die Grünen" bin, wird sie meine Meinung zu diesem Thema wahrscheinlich nicht interessieren. Trotzdem teile ich sie Ihnen kurz mit. Denn ich habe mich entschlossen, zu dieser Wahnsinnspolitik nicht mehr zu schweigen.

Im wesentlichen kann ich mich den Ausführungen des Herrn Karl-W. Koch anschließen. Allerdings halte ich seinen Lösungsvorschlag bzw. seine Alternative für utopisch und illusionär. Außerdem bin ich kein Pazifist. Ich lehne den Kriegsdienst nicht grundsätzlich ab. Ich bin der Meinung, daß man sich gegen Angriffe wehren und anderen, die angegriffen werden, helfen darf. Und dies gilt nicht nur für einzelne Personen, sondern auch für Staaten und Völker. Diese dürfen sich mit militärischen Mitteln gegen Angriffe zur Wehr setzen. Deshalb bin ich auch der Meinung, daß es selbstverständlich "gerechte" Kriege gibt. Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien ist allerdings kein gerechter Krieg. Zwar besteht für die Kosovo-Albaner eine Notwehrsituation. Denn die Politik des serbischen Regimes im Kosovo ist offensichtlich verbrecherisch. Deshalb dürfen sich die Kosovo-Albaner dagegen zur Wehr setzen. Und andere Staaten dürfen ihnen dabei zur Hilfe kommen. Der entscheidende Denkfehler besteht aber darin, daß deshalb der NATO-Krieg gegen Jugoslawien gerechtfertigt ist. Ein Jura-Student, der in seiner Examensarbeit einen solchen Denkfehler machen würde, erhielte die Note "ungenügend". Denn durch Notwehr ist nicht jedes Mittel gerechtfertigt, mit dem man sich gegen einen Angriff verteidigt. Die Mittel müssen 1. geeignet sein, den Angriff abzuwehren, und sie müssen 2. verhältnismäßig sein. Die mehr als sechswöchigen Luftangriffe auf Jugoslawien haben die Morde, Vergewaltigungen und Vertreibungen im Kosovo nicht verhindert. Sie waren also bisher keine geeigneten Mittel. Ob sie in Zukunft erfolgreich sein werden, ist mehr als fraglich. Und zumindest der größte Teil der Luftangriffe ist offensichtlich nicht verhältnismäßig. Oder will man die Bombardierung von Brücken, auf denen unbeteiligte Menschen getötet werden, oder die Zerstörung von Elektrizitätswerken im Ernst als verhältnismäßig bezeichnen? Dies wird besonders deutlich, wenn man sich überlegt, was der Vergleich bedeutet, den Frau Nickels immer wiederholt: Die Politik habe nur die Wahl zwischen Pest und Cholera gehabt. An sich ist dieser Vergleich durchaus zutreffend. Sie vergleicht offenbar das, was die Kosovo-Albaner erleiden, mit der Pest und das, was die Serben durch die Luftangriffe der NATO erdulden müssen, mit der Cholera. Und man kann natürlich das, was den Kosovaren durch Milosevic zugefügt wird, als wesentlich schlimmer bezeichnen als das, was den Serben durch die NATO angetan wird. Wenn man aber den Vergleich zu Ende denkt, wird das Ganze absurd. Dies heißt nämlich, daß die NATO versucht, die Pest im Kosovo dadurch zu bekämpfen, daß sie die Serben mit Cholera infiziert.

Oder anders ausgedrückt: Die NATO versucht, "den Teufel durch Beelzebub auszutreiben."

Im übrigen ist der Vergleich auch sehr fragwürdig. Denn die Menschen im Kosovo werden von einem verbrecherischen Regime ermordet, vergewaltigt und vertrieben. Dagegen werden die Serben, die den NATO-Bomben zum Opfer fallen, von Staaten getötet, die sich gerade die Verhinderung solcher Verbrechen zum Ziel gesetzt haben. Und in meinen Augen ist es ein wesentlicher Unterschied, ob ein Polizist jemanden im Dienst ermordet oder ob dies ein Verbrecher tut.

Ein "Erfolg" des NATO-Krieges ist offensichtlich: nämlich eine erschreckende Pervertierung des Rechtsbewußtseins, die auch Ihre Partei voll erfaßt hat.

Ich war fast 30 Jahre Strafrichter und mußte daher oft entscheiden, ob ein an sich strafbares Verhalten durch Notwehr oder Nothilfe gerechtfertigt war. Nach den gesetzlichen Vorschriften, die ich dabei zu beachten hatte, sind die Luftangriffe gegen Jugoslawien eindeutig rechtswidrig. Ein Beispiel: Geiselnehmer stellen unerfüllbare Forderungen und drohen, in regelmäßigem Abstand Geiseln zu erschießen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Die Polizei kann die Geiselnahme nur beenden, wenn sie in Kauf nimmt, dabei auch die Geiseln zu töten. Eine Alternative gibt es nicht. Dann darf die Polizei nicht gewaltsam gegen die Geiselnehmer vorgehen. Sie kann nur versuchen, die Geiselnehmer durch Verhandlungen zum Aufgeben zu bewegen, auch wenn das zur Folge hat, daß alle Geiseln getötet werden. Sie muß also diesem Morden untätig zuschauen. Die Polizisten machen sich dann auch nicht schuldig. Wenn sie dagegen gewaltsam gegen die Geiselnehmer vorgehen und dabei auch die Geiseln getötet werden, machen sie sich schuldig und strafbar. Und nehmen wir an, die Polizei würde in einer solchen Situation versuchen, die Geiselnehmer dadurch zum Aufgeben zu veranlassen, daß sie ihre Häuser in die Luft sprengt, ihre Familien inhaftiert und mit dem Tode bedroht, so würden solche Maßnahmen in der Bevölkerung - hoffentlich! - blankes Entsetzen auslösen. Wenn aber die NATO in einer ähnlichen Situation ähnliches tut, wird dies fast allgemein akzeptiert.

Daraus ergibt sich auch, daß die Behauptung, man müsse die Angriffe gegen Jugoslawien fortsetzen, weil es dazu keine Alternative gebe, das abwegigste Argument in dieser Diskussion ist. Ein falsches Verhalten kann nicht deshalb richtig werden, weil es dazu keine Alternative gibt. Beispiel: Ein arbeitsloser Drogenabhängiger, der zahlreiche erfolglose Therapien hinter sich hat, kann seinen Drogenkonsum nur durch Straftaten finanzieren. Eine Alternative gibt es für ihn nicht. Trotzdem verlangen wir von ihm, daß er keine Straftaten begeht. Wenn er es trotzdem tut, wird er hart bestraft. Niemand kommt auf die Idee, ihm zu erlauben, sich durch Straftaten Geld zu beschaffen, weil er keine Alternative hat.

Die einzige Alternative zu den Luftangriffen wäre der Einsatz von Bodentruppen. Wenn man dies ablehnt, weil man keine eigenen Soldaten opfern will oder ein Eingreifen Rußlands befürchtet oder dafür ein UNO-Mandat für erforderlich hält, gibt es tatsächlich keine Alternative. Aber es gibt eben im Leben nicht immer eine Alternative. Solange Menschen auf dieser Erde leben, werden Menschen Verbrechen begehen. Wir werden dies nie verhindern können, sondern müssen uns damit abfinden. Auch in Staaten, die die härtesten Strafen androhen und diese Strafen auch extrem grausam vollstrecken (Beispiel: Todesstrafe in den USA), kommt es immer wieder zu den abscheulichsten Verbrechen. Wenn die Luftangriffe gegen Jugoslawien rechtswidrig sind, können wir für die Bewohner des Kosovo nur dasselbe tun, was wir für die Bewohner Somalias, Angolas oder des Südsudans tun oder was wir für die Menschen in Ruanda, Kambodscha oder Südafrika getan haben: nämlich nichts! 

Und dann kommt das abscheulichste Argument: Der Kosovo liege in der "Mitte Europas", diese Verbrechen geschehen "vor unserer Haustür". Sind den die Ruander, Kambodschaner oder die "Neger" in Südafrika weniger wert als die Kosovo-Albaner?

Ich hoffe, es ist deutlich geworden, daß meine Position nichts, aber auch gar nichts mit Pazifismus zu tun hat.

Bisher gehörte ich zu den sog. "Stammwählern" der SPD. Seit diese Partei in ihrer Mehrheit den NATO-Krieg gegen Jugoslawien befürwortet, ist diese Partei für mich nicht mehr wählbar. Wenn "Die Grünen" ihren Grundsätzen treu geblieben wären oder wenn sie wenigstens jetzt die Notbremse ziehen und die Koalition mit der SPD aufkündigen würden, würde ich sie wahrscheinlich in Zukunft wählen. Ich würde sogar vielleicht an der Europa-Wahl teilnehmen, obwohl ich mich an diesen Wahlen bisher nicht beteiligt habe, weil das "Europa-Parlament" nur ein Schein- oder Pseudoparlament ist. Aber eine grüne Partei, die den NATO-Krieg befürwortet, kann ich nicht wählen. Übrigens ist für mich die größte Enttäuschung dieser Bundesregierung der "Superstar" Joschka Fischer. Da die PDS für mich ebenfalls nicht in Betracht kommt, werde ich mich leider der Stimme enthalten müssen. Obwohl ich eigentlich weiterhin der Meinung bin, daß die Teilnahme an Wahlen zu den wichtigsten Rechten und Pflichten jedes Staatsbürgers gehört.

Es ist wirklich traurig, daß die vielen Menschen, die von den vier ernstzunehmenden Parteien vertretene Jugoslawien-Politik ablehnen, im Bundestag nicht mehr vertreten sind.

Trotz allem Ärger mit freundlichen Grüßen

(Wolfgang Pfeifer)