Politiker
- Schröder und Fischer mit versteckter Kamera - 
PANORAMA  Nr. 626 vom 15.5.2003 (www.ndrtv.de)
 
 

Brisante Szenen
- Politikertricks abseits der Kameras
 
 

Anmoderation
Anja Reschke:

Es hätte am Schluss nur noch Frank Elsner auftreten müssen, dann wäre es ein perfekter Auftritt der versteckten Kamera. Aber so war es doch eher ein kleiner Lauschangriff auf Europas Spitzenpolitiker. Ein dänischer Dokumentarfilmer durfte drei Monate lang seinen Ministerpräsidenten mit der Kamera begleiten, auch auf dem historischen EU-Gipfel in Kopenhagen. Und man muss sagen, er ist wirklich sehr nah rangekommen, denn was nur der dänische Ministerpräsident, nicht aber seine europäischen Amtskollegen wussten: Alles wurde in Ton und Bild aufgezeichnet. Alles – auch das, was die gesammelten Regierungschef um ihn herum so sagten und eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war.
Jochen Graebert über einen Backstage-Bericht, der halb Europa blamiert, das Wahlvolk aber amüsiert.
 
 

Kommentar:
Staatsbesuch, Meinungsaustausch, Gipfeltreffen. Die Rituale sind stets die gleichen. Immer lächeln für die Kameras.
Bei ihm lächeln sie nicht. Drei Monate lang hat der Reporter Christoffer Gulbrandsen seinen Regierungschef begleitet, den dänischen Ministerpräsidenten Fogh-Rasmussen. Auf Schritt und Tritt, mit Kamera und Mikrofon. Rasmussen war Ratspräsident der EU, hat die Osterweiterung gemanagt. Eine Enthüllungsstory, der Blick hinter die Hochglanzfassade der Diplomatie. Im vertraulichen tête-a-tête gesteht hier Frankreichs Staatspräsident Chirac seine Angst vor heimischen Bauern:

0-Ton
Jacques Chirac: (Übersetzung)
“Nein, nein, das schaffe ich politisch nicht. Wissen Sie, heute Morgen habe ich schon wieder zwei Kundgebungen mit Bauern abgesagt. Da war ich eingeladen. Aber ich weiß doch, wie wütend die werden können. Ich habe gerade mit Verheugen gesprochen, der sieht das auch so.”

Kommentar:
Und Gulbrandsen ist auch mit dem Mikrofon dabei, als der russische Präsident Putin preisgibt, was er wirklich von Journalisten hält.

0-Ton
Präsident Putin: (Übersetzung)
“Das sind doch Banditen, alle.”
 
 
 

0-Ton
Christoffer Gulbrandsen: (Übersetzung)
(Fernsehjournalist)
“Rasmussen hat ein winziges Ansteckmikrofon am Revers getragen, allerdings nur auf Pressekonferenzen. Deshalb haben wir die Worte von Putin aufnehmen können. Das war unmittelbar nach der Pressekonferenz, und Rasmussen hatte einfach keine Zeit mehr, das Mikrofon rechtzeitig abzunehmen.”

Kommentar:
Und so liefert Gulbrandsen ganz andere Bilder als die großen Nachrichtensender.
Beispiel Berlin, 3. Dezember. Die offizielle Version eines Gipfeltreffens:
Der dänische EU-Ratspräsident Rasmussen und Bundeskanzler Schröder haben heute über die Kosten der Osterweiterung beraten. Schröder lehnte den dänischen Finanzplan erneut ab.

0-Ton
Gerhard Schröder:
“Das Finanzpaket entspricht noch nicht unseren Erwartungen.”

Kommentar:
Die Wahrheit erfährt der dänische Reporter hinter der Bühne.

0-Ton
Regierungssprecher: (Übersetzung)
“Schröder hat zugestimmt, er unterstützt unseren Plan, aber offiziell erst beim Gipfel in Kopenhagen. Das müssen wir aber geheim halten, und öffentlich sollen wir weiter die harte Linie fahren. Schröder hat zwischen den Zeilen gesagt: Wenn ich den Polen irgendwas gebe, verkünde ich das, und zwar in Kopenhagen. Ganz klar: Wir dürfen über nichts mehr verhandeln, höchstens noch über Bärenjagd und anderen Kleinkram.”

Kommentar:
Rasmussen wieder daheim in Kopenhagen. Mit seinen engsten Mitarbeitern bespricht er, wie man Schröder auf dem bevorstehenden EU-Gipfel ausbremsen kann:

0-Ton
Rasmussen: (Übersetzung)
“Schröder hat mir verraten, was er am Wochenende nach dem Gipfel vor hat. Der hat sich mit seiner Frau in London verabredet. Jetzt wissen wir, dass er pünktlich fertig werden will. Also packen wir alles auf den Tisch. Milchquoten, Schlachtprämien, wir reden über Kühe. Er will ja fertig werden. Soll er doch selbst entscheiden, ob er über Kühe reden oder mit seiner Frau nach London fliegen will. Ich weiß, was meine Frau sagt, wenn ich mich für Kühe und nicht für sie entscheiden würde.”

Kommentar:
Kopenhagen, 12. Dezember. Der EU-Gipfel in allen Fernsehnachrichten:
“In Kopenhagen hat die Europäische Union heute über den Beitritt der Türkei beraten. Ein konkreter Zeitpunkt wurde nicht vereinbart. Die türkische Seite zeigte sich enttäuscht.”

Zur gleichen Zeit. Gulbrandsen ist Augenzeuge eines Gesprächs zwischen Staatsmännern.
 
 

0-Ton
Dänischer Außenminister: (Übersetzung)
“Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass Joschka Fischer drei Meinungen zur Türkei hat? Mit hat er neulich gesagt, die würden nie EU-Mitglied werden. Ich frage ihn: Können Sie mir das mal näher erklären? Wie meinen Sie das? Da sagt Fischer: Nee, nee, ich habe nur laut gedacht, vergessen Sie es.”

Kommentar:
13. Dezember, EU-Gipfel, früher Nachmittag. Die Meldung: Ost-Erweiterung fast perfekt:
“Durchbruch in Kopenhagen. Einzelheiten gab der Bundeskanzler auf einer Pressekonferenz bekannt. Der Vertrag stehe, so Schröder, kurz vor dem Abschluss.”

0-Töne (Übersetzung)
“Da, guck mal, die geben eine Pressekonferenz.”
“Wer?”
“Schröder.”

Kommentar:
Kalte Wut bei den Dänen. Die Verhandlungen laufen noch, und Medienprofi Schröder stiehlt allen die Show.

0-Töne (Übersetzung)
“Ja, ja, der verkauft das als deutschen Plan.”
“Er hat vom deutschen Plan geredet.”
“Schröders Plan, sehr witzig.”
“Jetzt, wo alles klappt, ist es auf einmal Schröders Plan.”
 

Kommentar:
Hinter den Kulissen wieder Empörung über Schröder. Denn Rasmussen muss noch um Milchquoten pokern, mit Polens Regierungschef Miller. Verhandlungspause.

0-Töne (Übersetzung)
Rasmussen u.a.:
“Er war sauer.”
“Wer? Schröder?”
“Nein, Miller, wegen Schröders Pressekonferenz.”
“Weil Schröder gesagt hat, er gibt eine Milliarde.”
“Weil Schröder vorhin öffentlich verkündet hat, dass wir Polen eine Milliarde Euro angeboten hätten.”
“Das stimmt doch nicht.”
“Nein, natürlich nicht.”

Kommentar:
Plötzlich ist der polnische Ministerpräsident verschwunden.

0-Töne (Übersetzung)
Rasmussen u.a.:
“Wo ist er?”
“Der redet mit Schröder.”
“Wo?”
“Da, nebenan.”
“Unmöglich, diese bilateralen Verhandlungen.”
“Das stört doch alles.”
“Ja, klar.”
“Dann muss Schröder eben noch mehr zahlen.”
 

Kommentar:
13. Dezember, EU-Gipfel, früher Abend. Der Erfolg wird verkündet:
“In Kopenhagen wurde heute die größte Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union beschlossen. Die Staats- und Regierungschefs sprachen von einem historischen Tag.

0-Ton
Rasmussen: (Übersetzung)
“Heute haben wir vollbracht, wofür Generationen von Europäern gekämpft haben.”

Kommentar:
Alles unter Dach und Fach. Aber das Wichtigste erst in allerletzter Minute:

0-Töne (Übersetzung)
“Jetzt müssen wir nur noch das Geld verteilen.”
“Malta kriegt 60 Millionen, 20 Slowenien und 20 Tschechien.”
“200 Millionen kann ich verteilen, laut Empfehlung.”
“Müssen wir eigentlich irgendjemandem mal erklären, wie diese Summen zustande kommen?”
“Ist auch egal, so ist eben Politik.”
 

0-Ton
Rasmussen: (Übersetzung)
“Dies ist wirklich ein historischer Moment, an den sich Europa und die ganze Welt erinnern wird.”

Kommentar:
In diesem historischen Moment haben seine Mitarbeiter abseits der Bühne andere Sorgen:

0-Töne: (Übersetzung)
“Und jetzt? Zwei Monate frei?”
“Nee, glaub ich nicht.”
“Aber im Januar will ich frei machen, meine Wohnung streichen.”
 
 

Bericht:   Jochen Graebert
Schnitt:    Katrin Ahmed, Birgit Bossbach
 

Abmoderation
Anja Reschke:

Das ganze Ausmaß der kleinen sprachlichen Spitzen, der feinen politischen Absprachen, die nicht für unsere Ohren bestimmt waren, können Sie demnächst in mehreren Dritten Programmen der ARD sehen. Fast alle Sender werden den dänischen Dokumentarfilm in kompletter 60-Minuten-Fassung ausstrahlen.

 Kommentar der WELT dazu