Mehrarbeit und Wirtschaftswachstum
- ein Leserbrief im Leserbrief von Jens Niestroj, der mir u.a. wegen seiner plastischen Beispiele gut gefiel. Er reiht sich ein in die derzeitige Debatte, ob nicht die Kriminalisierung von Schwarzarbeit zeitgleich mit der Forderung, unbezahlt länger zu arbeiten, einen inneren Zusammenhang hat. Letztlich dreht sich alles weiterhin um eine alte Schwarte "Das Kapital", die mancher DGB-Funktionär nicht zu lesen braucht, da er lieber das Rad immer und immer wieder von neuem erfinden möchte, sowie um die hier geschilderten Alltagsbeobachtungen, die in ein SPD-Weltbild einfach nicht passen wollen.
Aktuell dazu: Mannesmannprozess - Sozialpartner der besonderen Art 
 Wir haben meines Erachtens nicht nur eine "Überproduktionskrise". Sondern es ist auch so, dass die Arbeitenden immer mehr (intensiver) arbeiten müssen und dafür noch weniger Geld bekommen. Die "Diskussionen" um die Streichung von Feiertagen ist dabei nur Augenwischerei. 

Fakt ist, dass nahezu jeder, den ich kenne mehr arbeitet, als noch vor 5 Jahren. Fragen Sie einmal Briefträger nach der Größe ihres Zustellbezirkes. Oder Schalterbeamte der Bahn, wie viel Umsatz die machen müssen. Oder Landwirte, wie viel die produzieren müssen, um wirtschaftlich zu überleben. Oder die Müllkutscher, wie viele Mülltonnen die jetzt schaffen müssen. Alles unter dem Motto: Effizienzsteigerung. 

Und für dieses Mehr an Arbeit, für die intensivere Arbeit gibt es 
selbstverständlich weniger Geld. Weihnachsgeld wird gestrichen, die "Lohnerhöhungen" für die Arbeitenden sind nicht der Rede wert. Was aber schlimmer ist: Privatisierungen und Outsourcing.

Dann bekommen die Arbeitenden nämlich neue Verträge. Selbstverständlich leistungsbezogen. Und dies bedeutet immer Einkommenseinbußen von 20% und mehr. Und dies bei Mehr-Arbeit. Ich schätze einmal: Falls die Arbeitenden in Deutschland so "intensiv" wie Anfang der 90ger arbeiten würden, hätten wir mindestens 2 Mio Arbeitslose weniger. 

Daneben möchte ich Sie auf die Wachstumsgläubigkeit unserer Gesellschaft bzw. der die öffentlichen Meinung bildenden verweisen. Zu diesem Zweck anbei ein Leserbrief an die taz, den ich vor 2 1/2 Jahren geschrieben habe, immer noch aktuell ist und der selbstverständlich nicht einmal auszugsweise veröffentlicht  wurde. 

zu Ihrem Beitrag "Wie sichert man die Konjunktur" vom heutigen Donnerstag (29.3.01) folgende Anmerkungen:

Ich verstehe schon, wenn in der allgemeinen Presse zu lesen ist, 
Wirtschaftswachstum ist gut, mehr Wachstum ist besser - auch und gerade für die Masse der Bevölkerung. Ich verstehe auch, dass man derartige Ansichten auch in der taz lesen muss. Aber warum liest man immer nur wachstumsfreundliche Artikel? 

Wo ist der / die Wirtschaftsredakuer(in), der / die sich kritisch mit 
Wirtschaftswachstum auseinandersetzt? 
Liegt es vielleicht daran, dass es keine Alternative zum Wirtschaftswachstum  gibt? Oder daran, dass man einfach sagt, Wachstum war in der Vergangenheit gut, ist in der Gegenwart gut und wird in der Zukunft gut sein? 

Anders ausgedrückt: Warum mäkele ich eigentlich herum? Vielleicht, weil mir die Vorteile von einem dauernden Wirtschaftswachstum einfach nicht einsehen will - weder für die Leute in Deutschland (bzw. im Westen), noch für die in der Dritten 
Welt. 

Schauen Sie sich einfach einmal die derzeitige Situation an. Zunächst einmal ist es so, dass sich alle Regierungen im Westen / Weltweit bemühen, ein "wirtschaftsfreundliches" Klima zu schaffen. Dies bedeutet vor allem, dass die Regierungen möglichst gute Rahmenbedingungen für maximale Gewinne von Unternehmen (und damit von Kapitalbesitzern) schaffen. Dabei ist eine Verzinsung des Eigenkapitals von mindestens 10 % erforderlich, Kredite (=Fremdkapital) müssen mit 5 bis 7% verzinst werden.  Weil: nur so werden Arbeitsplätze geschaffen und nur so kann etwas für die Umwelt getan werden. So weit, so unlogisch. 

Denn: Die Einkommen vieler Arbeitnehmer geht kontinuierlich zurück. Schauen Sie sich nur einmal die Einstiegsgehälter von Busfahrern, Lokführern, Müllkutschern, Postlern, Bauern usw. 1990 und heute an. Und, was erkennt man? 1990 haben diese 
Spitzenverdiener der deutschen Wirtschaft brutto (und erst recht netto) mehr Geld bekommen. Und dies trotz Wirtschaftswachstum und trotz Inflation!! 

Andererseits verdienen sich Leute mit Geld dumm und dusselig. Eine "angemessene" Verzinsung des Eigenkapitals bedeutet bei nur 10% Verzinsung (untere Grenze) eine Verdoppelung des eingesetzten Kapitals in nur 7 Jahren. In den 11 Jahren seit 1990 hat sich mit 10% verzinstes Kapital fast verdreifacht. Und eine Verzinsung von 10% ist die Untergrenze für eingesetztes Kapital. 

Zwischenergebnis: Während sich die Einkommen zahlreicher Berufsgruppen seit 1990 deutlich verringert hat, ist es zu einer deutlichen Erhöhung des Kapitalvermögens gekommen. 

Dass dies nicht anhand von allgemeinen Statistiken deutlicher wird, hat einen einfachen Grund: die Masse der lohnabhängig Beschäftigten hat noch die "alten"  Arbeitsverträge. Und: Angestellte im öffentlichen Dienst mußten noch keine  Gehaltseinbußen hinnehmen. 

Schlußfolgerung: Das Wirtschaftswachstum wurde (fast) vollständig zum Wachstum des Kapitalvermögens verwendet. Oder anders ausgedrückt: Das Kapital wächst auf  Kosten der Masse der (kapitallosen/-armen) Menschen. 

Schlußfolgerung II: Wirtschaftswachstum ist erfoderlich, um das Wachstum an Kapital zu ermöglichen. Und zu nichts anderem sonst. 

Und dabei rede ich noch gar nicht von den richtig armen Menschen in der Dritten und Vierten Welt, die uns zu unseren westlichen Bedingungen bei immer geringerer Bezahlung immer mehr Rohstoffe zur Verfügung stellen müssen, da unsere Wirtschaft nun einmal zum Wohle aller wachsen muss. Und was ist mit den zunehmenden Umweltzerstörungen als Folge des 
Wirtschaftswachstums, die ja nicht einmal Befürworter des Wachstums leugnen  ("leider geht es nicht anders")? 

Und da soll Wirtschaftswachstum toll sein?? 
Weiterhin sollten Sie eine weitere Tatsache bedenken: Die Geldmenge / das  Kapital wächst stärker, als die Wirtschaft. Das eingesetzte Kapital wächst selbst bei konservativer Geldanlage (Pfandbriefe, Immobilienkredite etc.) um sagen wir inflationsbereinigte 3 bis 4%. Derartiges Wirtschaftswachstum hatten wir die letzten 10 Jahre jedenfalls nicht. Und daraus kann ich, der ich kein Wirtschaftswissenschaftler bin, nur schlußfolgern, dass das Kapital schneller, als die produzierten Güter und Dienstleistungen wächst. Woraus wiederum geschlossen werden kann, dass es für die "Kapitallosen" zu einer Entwertung ihres Geldes kommt. 

Dies kann man im übrigen schön an einigen netten Beispielen sehen. 1960 konnte es sich noch ein Lokführer leisten (wenn auch nur knapp und mit vielen Eigenleistungen), in der Dortmunder Innenstadt ein Grundstück zu kaufen und darauf ein Mehrfamilienhaus zu bauen - und dies ohne wesentliches Eigenkapital.  20 Jahre später war dies unmöglich. Da konnte es sich aber ein mittlerer Beamter leisten, in einer deutschen Kleinstadt ein relativ großes Grundstück zu kaufen und dort ein freistehendes Einfamilienhaus zu errichten. 20 Jahre später ist  auch dieses unmöglich. 

Ich will jetzt nicht der Häuslebauermentalität das Wort reden, aber diese Beispiele sagen doch mehr als genug, oder? 
Falls dies nicht reicht: Vor 20 Jahren konnte es sich unsere Gesellschaft leisten, das alle Menschen mit einer entsprechenden Schulbildung studieren konnten - ohne Studiengebühren. Mittlerweile sollen die öffentlichen Finanzen so schlecht sein, dass der Staat dieses nicht mehr leisten kann? 

Oder: Vor 20 Jahren konnten hier in Rotenburg behinderte Menschen mit einem wesentlich höheren Personalaufwand gepflegt werden. Heute ist noch nicht einmal eine "Pflege" der selben Anzahl Behinderter mit der Hälfte des damaligen Personals sicher, da zu "teuer". Um es deutlich zu sagen: Vor 20 Jahren mit einer geringeren Wirtschaftskraft konnte es sich unsere Gesellschaft im Gegensatz zu heute die aufwendigere Pflege behinderter Menschen leisten! 

Und da soll Wirtschaftswachstum toll sein? Meiner Meinung nach kaschiert es nur das unbegrenzte Kapitalwachstum. Die Masse der westlichen Bevölkerung jedenfalls profitiert vom Wirtschaftswachstum jedenfalls nicht. Und die Masse der Menschen in der Dritten Welt leidet unter dem Wirtschaftswachstum. 

 Ende des Leserbriefes. 

Vielleicht können Sie ja einen Teil meiner Gedanken für Ihre Texte verwenden. 

 Daneben möchte ich eine Anmerkung zu Ihren (inhaltlich meist guten) Texten machen: Ich denke, dass es besser wäre, andere Menschen nicht direkt anzugreifen. Wir müssen die Ideen des Mainstream bekämpfen, nicht aber die Menschen, die diese repräsentieren. Ansonsten werden wir den Spiegel-Zynikern immer ähnlicher. 

 Einen schönen Tag, 

 Jens Niestroj 

Im übrigen bewundere ich Frau Klarsfeld - meine Antwort auf den letzten Gedanken Niestrojs. Von der "Ideenbekämpfung" lassen sich Verbrecher nicht abhalten.

Und ein Hinweis auf eine Zeit, als sich die Bundesrepublik in einer Systemkonkurrenz als das bessere Deutschland beweisen mußte: da gab es mal Vollbeschäftigung. Kaum Staatsverschuldung. Keine Drogenprobleme. Bahn und Post waren pünktlich, man glaubt es kaum. Und waren dabei staatlich. Straßen, Wasser, Strom waren übrigens auch nicht privatisiert. Okay, die Gesellschaft war nicht "überaltert" (welch fieses Wort) - man hatte stattdessen  "nur" die Integration einer zweistelligen Millionenzahl von Ostflüchtlingen, Kriegsversehrten und Waisen zu bewältigen.
Es wurde - in Nachbarschaftshilfe - das Häuslebauen zum Kult.

Ich will nun wirklich nicht die Zeit verherrlichen. Nur stehen die Negativa in keinem strukturellen Zusammenhang mit den anderen Daten. Zumindest hat mir noch niemand den Zusammenhang zwischen Prüderie und Vollbeschäftigung, unaufgearbeiteter Naziideologie und Postservice, Umweltverschmutzung und Drogen usw. erklärt.

Niestroj macht auf die Machbarkeit aufmerksam - im Rahmen unseres derzeitigen Wirtschaftssystems übrigens. Die Stellschrauben werden gedreht, die drehen sich nicht selber.