Kanzlerbrief zur Bundeswehrreform
 
  
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

Ihre Regierung geht mit Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik konzeptionslos um. Exemplarisch wird das deutlich an zwei wenige Wochen auseinander liegenden, gegensätzlichen Entscheidungen:

Der Verteidigungsminister verkündet den Totalumbau der Bundeswehr zur weltweit einsetzbaren Interventionsarmee. Der Finanzminister drückt ihm eine globale Minderausgabe von 250 Millionen € aufs Auge. Mal abgesehen von der Frage, ob es für eine Mittelmacht wie Deutschland nicht ein paar Nummern kleiner geht, ob verantwortungsvoll handelnde Politiker nicht alles tun müssten, um die ständig steigenden Ausgaben für Auslandseinsätze zu reduzieren. Schließlich herrscht in den öffentlichen Kassen totale Ebbe, werden gerade Millionen eigentlich Bedürftiger geschröpft und wird Land auf, Land ab, das öffentliche Tafelsilber verscherbelt: 
Wäre es nicht endlich an der Zeit, die Voraussetzungen und Bedingungen für den Einsatz der Bundeswehr im Parlament klar zu benennen? Die deutschen und europäischen Interessen zu definieren? Die rechtliche linke und rechte Grenze von Einsätzen nach Verfassung und Charta der VN eindeutig fest zu legen?

Stattdessen haben Sie sich aus Opportunismus 1998 an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg beteiligt und damit die machtpolitische Zurückhaltung unseres Landes endgültig begraben. Faktisch ist die Bundeswehr seitdem unter Ihrer Verantwortung zum wichtigsten Instrument deutscher Außenpolitik geworden. 
Deutsche Außenpolitik sollte doch angeblich Friedenspolitik sein.

Ihre Formulierung von der „Enttabuisierung des Militärischen“ ist dem hehren Anspruch Ihrer ersten Regierungserklärung diametral entgegengesetzt. Sie ist Ausdruck Ihres Rückfalls in eine sogenannte Normalität, die von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes mit Sicherheit nicht gewollt war. Und sie zeigt die Abwesenheit der historischen Dimension in Ihrem Denken. Denn jene waren keine irrationalen Traumtänzer. Sie handelten aus ihrer geschichtlichen Erfahrung und Verantwortung heraus, um genau das zu verhindern, was Sie mit dem Sündenfall Kosovo begonnen haben: Politik in Grauzonen und außerhalb des Rechts. 

Manch ein kritischer Zeitgenosse unterstellt Ihnen als Motiv Großmachtambitionen. Nein, die Sache ist viel banaler. Sie sind weder Fisch noch Fleisch. Sie sind Getriebener, Sie lassen sich wider besseres Wissen zum verlängerten Arm der Interessen der NATO-Führungsmacht machen. An deren Leine stolpern Sie von einem – Sie können es sich aussuchen – humanitären, Antiterror-, Demokratisierungs-, nation building- Einsatz in den nächsten. 

Haben Sie das Wolfowitzdokument, Rebuilding America’s Defences, nicht gelesen, Blaupause für die National Security Strategy? Hinter dem alle stehen, die im außenpolitischen Establishment jenseits des Atlantiks das Sagen haben? Können Sie ein einziges der dort definierten vitalen Interessen als europäisches übernehmen? Vielleicht die Entwicklung biologischer Waffen zur Ausbreitung des Freien Handels? Oder das Kleinhalten potentieller und existierender Rivalen? Trotzdem beteiligen Sie sich an der NATO Response Force, die das Exekutionsinstrument der Philosophie des „America first“ ist. 
Eine seltsame Art des burden sharing, wenn der explizit genannte globale Konkurrent sich an seiner eigenen Niederhaltung beteiligt. Konsequenterweise müssten Sie dann auch einen Dauerauftrag der SPD an den Wahlkampffond der CDU einrichten.

Ihren Sonntagsreden möchte ich mit Vielen in diesem Land ja gerne glauben. Doch die Rüstungsplanung Ihres Verteidigungsministers– Eurofighter, Taurus Marschflugkörper, Korvetten und Fregatten zur Hochseekriegführung mit Wirkung von See aufs Land, U-Boote – sieht nicht gerade nach Krisenprävention und –beilegung aus. Damit stellen Sie die Weichen für die erzwungene Beteiligung an künftigen Globalisierungskriegen um Rohstoffe und Energie. 

Glauben Sie im Ernst, Sie könnten sich dem Bündnisdruck entziehen, nachdem Sie für die 21 000 Soldaten starke Schnelle NATO- Eingreiftruppe unverzichtbare militärische Beiträge zugesagt haben? Wenn die demnächst mit sexy gemachten Geheimdienstinformationen unter Umgehung der UNO nicht vorhandene Massenvernichtungswaffen präventiv bekämpft, gegebenenfalls mit mini-nukes?

Ohne Not sind Sie in die Falle gegangen. Und haben der Entwicklung Europas zur Zivilmacht und als Katalysator für den Multilateralismus schweren Schaden zugefügt. Die Menschen in diesem Land haben aufgeatmet, als Sie zum Irakkrieg Nein gesagt haben. Aber Ihr Mut, Herr Bundeskanzler, beschränkt sich auf die Kujonierung der eigenen Fraktion. Wo er angesagt wäre, sind Sie ein Papiertiger. 

Unser Territorium und den Luftraum haben Sie dem völkerrechtswidrig Handelnden zur Verfügung gestellt und die Bundeswehr mit der Bewachung amerikanischer Liegenschaften zum Kombattanten gemacht. Und die Bevölkerung zum Dank belogen, indem Sie sich auf nicht vorhandene Bündnisverpflichtungen herausgeredet haben. Sie haben nicht einmal den Mut, Herrn Coats einzubestellen, der sich wie ein Statthalter aufführt und Ihnen öffentlich Zensuren erteilt. 
16 Millionen Menschen in den neuen Bundesländern haben dabei déjà vu Erlebnisse. Sie stehen offensichtlich so sehr in der Furcht des Herrn, dass Sie sogar in Ihrer Not den Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes verbal außer Kraft setzen: „Es geht hier nicht um Juristerei, sondern um Politik.“ 

           Deutschland hat wegen seiner Geschichte eine besondere Verantwortung, Politik strikt am Recht auszurichten, national und international. Werden Sie ihr endlich gerecht. Bündeln Sie Ihre Kräfte für den Aufbau eines Europa, das auf der Basis von Interessenausgleich und Gegenseitigkeit handelt. Das auf den Status einer globalen Militärmacht verzichtet. Das Konflikte primär durch diplomatische und wirtschaftliche Prävention löst. Stellen Sie endlich ohne Wenn und Aber klar, dass die Bundeswehr ausschließlich von der UNO mandatiert werden darf. Untersagen Sie dem Verteidigungsminister, in seinem Haus über die Legitimierung von Präventivkriegen nachdenken zu lassen. Überlassen Sie es Herrn Schäuble und der Adenauerstiftung, die Weiterentwicklung des Völkerrechts durch Legalisierung von Rechtsbrüchen zu fordern. Ergreifen Sie endlich die Initiative zu einer Reform der UNO und Revitalisierung der OSZE, die mit Ihrer Hilfe zum Erfüllungsgehilfen der NATO degradiert worden ist. Hören Sie auf, eine interessengesteuerte US- Risikoanalyse zu übernehmen und sorgen Sie dafür, dass dieser Unfug aus der Sicherheitsstrategie der EU verschwindet: Terrorismus ist militärisch nicht zu bekämpfen. Das liegt in der Natur der Asymetrie, um das Neusprech der Schreibtischkrieger aufzugreifen. Wäre es anders, hätte Israel seine Probleme längst gelöst und Sie müssten in Afghanistan nicht blühende Landschaften durch Feldhüter bewachen lassen.

Welchen Beitrag hätte wohl die spanische Armee leisten können, um die Anschläge von Madrid zu verhindern? 

Sorgen Sie für die Revitalisierung der Rüstungskontrolle, sie ist das Mittel der Wahl gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Sie war erfolgreich, solange die USA Interesse an ihr hatten. Besinnen Sie sich auf die sicherheitspolitischen Traditionen der SPD, für die Namen wie Egon Bahr und Willy Brandt stehen und handeln Sie danach. Der Weg, den Sie mit dieser Bundeswehrreform einschlagen lassen, ist ein Irrweg. Er weckt Begehrlichkeiten und blockiert die Möglichkeiten ziviler Konfliktlösungen, mental und materiell. Er wird die Welt nicht sicherer machen und Europa in weitere Händel verstricken, bei denen es nichts verloren hat.

J.Scholz: Nach 38 Jahren als Berufsoffizier der Luftwaffe nun außenpolitischer Berater. Die letzten sechs Dienstjahre im Bundesministerium der Verteidigung im Stab des Generalinspekteurs eingesetzt. Davor zwölf Jahre in NATO-Gremien, sechs Jahre in NATO-Stäben.
(c)Jochen Scholz, März 2004 c/o medienanalyse-international.de