EU-Reformvertrag:
Hat der Deutsche Bundestag  einer Reform zugestimmt, sie ratifiziert - ohne  den Vertrag gelesen zu haben?
 
  

In den einschlägigen Foren kusiert folgendes Schreiben:
"Sehr geehrter Herr Goldmull, 
vielen Dank für ihre mail vom 11. März 2008. 
Ich habe mich an der Abstimmung über den EU-Reformvertrag nicht 
beteiligt, weil ich mich grundsätzlich einer Teilnahme verweigert habe 
aus einem übergreifenden und zentralen Grund: Ein vollständiger Vertragstext lag nicht vor. Insofern fehlte aus meiner Sicht die Voraussetzung für eine entsprechende Abstimmung. 

Freundliche Grüße 
Dr. Hermann Scheer MdB 

-- 
Wahlkreisbüro Dr. Hermann Scheer MdB 
Bahnhofstr. 78, 71332 Waiblingen 
Postfach 1753, 71307 Waiblingen 
Tel. 07151 / 56 17 77 
Fax 07151 / 56 15 66 
Hermann.Scheer@wk.bundestag.de 
www.hermannscheer.de "

Es gibt Leute, die nachhaken:

"Sehr geehrter Herr ,

die Aussage von meinem Kollegen Dr. Hermann Scheer MdB kann ich nicht bestätigen. Mir lag der EU-Reformvertrag in seiner konsolidierten Fassung bereits am 17. April 2008 vor. Das Parlament hat über den Entwurf am 24. April abgestimmt.

Mit freundlichen Grüßen
Ilse Aigner" 

Email 18.6.08:
"Sehr geehrte Frau Aigner, 

Sie schrieben: 
"Mir lag der EU-Reformvertrag in seiner konsolidierten Fassung bereits am 17. April 2008 vor." 
Quelle: Abgeordnetenwatch. 

Anzunehmen ist, Sie meinen eine Bundestagsdrucksache. Da ich seit längerem eine offizielle vollständige konsolidierte Fassung suche, bitte ich Sie hiermit höflich um die Angabe der Drucksachen-Nummer. Auf dem DIP-Server fand ich keinen Eintrag der Art. 
Oder  hatten Sie eine andere Quelle? 

Danke für Ihre Mühe. 
-- 
Mit freundlichen Grüßen 

Andreas Hauß "

Das Büro  Frau Aigners antwortete prompt. Zugeschickt wurde diese konsolidierte Fassung .

Antwort-email:

Sehr geehrter Herr Kamml 

für die umgehende Antwort und die Zusendung dieser konsolidierten Fassung danke ich Ihnen. Sie entspricht wahrscheinlich der  beim AA zu findenden Fassung:
http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/
Europa/Verfassung/VertraegeKonsolidiert.pdf.
Eine andere konsolidierte Fassung, ich  glaube der Uni Leipzig, lag mir ebenfalls vor. Nun sind die Uni, das Auswärtige Amt sowie der RAT DER EUROPÄISCHEN UNION ehrenwerte Institutionen, bei denen die Bundesrepublik in  vielerlei Hinsicht mitzureden hat. Sie sind jedoch nicht der deutsche Souverän oder  seine vertretung, der Deutsche Bundestag.

Meine Frage lautete: "Anzunehmen ist, Sie meinen eine Bundestagsdrucksache. Da ich seit längerem eine offizielle vollständige konsolidierte Fassung suche, bitte ich Sie hiermit höflich um die Angabe der Drucksachen-Nummer. [...] Oder  hatten Sie eine andere Quelle? 

Aus der Nonchalance, in der Sie, sehr geehrter Herr Kamml mir schreiben:
"...anbei erhalten Sie die konsolidierte Fassung des EU-Reformvertrags." schließe ich, DIE (nicht "eine") Fassung wurde von Frau Aigner zur Grundlage  ihrer Entscheidung im Bundestag genommen, und  das gilt womöglich für alle Abgeordneten des Deutschen Bundestags. Ich fragte aber nach der OFFIZIELLEN vollständigen konsolidierten Fassung, wies auf das fehlen als Bundestagsdrucksache hin und  auch darauf, ob andere Quellen benutzt worden seien. Sie legen eine andere Quelle vor. Keine OFFIZIELLE.

Daraus schliesse ich, daß der deutsche Bundestag in seiner Entscheidung über den EU-Reformvertrag
 

1. kein Dokument ihres eigenen Organs PARLAMENT vorliegen hatten,
2. und auch nicht einmal  ein Dokument der eigenen deutschen Exekutive
3. stattdessen ein Dokument des RAT DER EUROPÄISCHEN UNION, die selbst GEGENSTAND der schwerwiegenden Entscheidung ist, akzeptierte
4. und das, obwohl dieser RAT DER EUROPÄISCHEN UNION im ersten Hinweis  unmißverständlich sagt: "Diese Veröffentlichung hat vorläufigen Charakter. Bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon könnten gegebenenfalls
für eine oder mehrere Sprachfassungen Berichtigungen erfolgen, um etwaige zwischenzeitlich im Vertrag
von Lissabon oder in den bisherigen Verträgen festgestellte Fehler zu berichtigen.
Diese Textausgabe soll lediglich den Benutzern eine leichtere Orientierung ermöglichen; ihre Veröffentlichung erfolgt
ohne Gewähr.".
5. somit  eine bindende Entscheidung über unser aller zukunft trifft ohne genaue textkenntnis, ohne ihre sachliche und sprachliche Prüfung. Wenn sich  in zwei Monaten herausstellen sollte, daß eine "Muß-Formulierung" eigentlich "sollte" heißen muß, daß irgendwo "EU-Rat" statt "EU-Parlament" zu lesen steht,  dann gehen die Abgeordneten in sich und sagen " Auf dieser Basis hätte ich meine Ja-Stimme nicht gegeben"? Oder was machen Sie dann?

Was Frau Aigner offenbar gemacht hat, war keine Gewissensentscheidung aufgrund auch nur minimalster sachkenntnis, sondern braves Händchenheben.

Abgeordnete, die nicht wissen, worüber sie entscheiden, sich nicht einmal  darum bemühen, nachher leichthin behupten, sei seien im Bilde gewesen - und die zudem noch falsch stimmen - sind meines Erachtens  als Abgeordnete  im Deutschen Bundestag nicht geeignet.

Dieses Schreiben werde ich  anderen MdBs zur Verfügung stellen.  M.E.  war die Ratifizierungs-Abstimmung ungültig.

Mit freundlichen Grüßen
A.Hauß



Tue, 24 Jun 2008 08:42:07 +0200
Antwort von Frau Aigner:

Sehr geehrter Herr Hauß, 

erlauben Sie mir zu Ihren Bemerkungen eine Stellungnahme: 

Der Deutsche Bundestag hat den Vertrag von Lissabon auf der Grundlage der BT-Drucksache 16/8300 und der Beschlussempfehlung des EU-Ausschusses unter Drs. 16/8917 beraten und beschlossen. Dabei handelt es sich nicht um eine "konsolidierte" Fassung des Vertrages von Lissabon, obwohl diese als 
Dokument der Europäischen Union ebenfalls verfügbar war. 

Rechtstechnisch handelt es sich beim Vertrag von Lissabon um die Änderung des Vertrages von Nizza, der vereinfacht gesprochen zwei Teile hat: den Vertrag über die Europäische Union und den EG-Vertrag. Der EG Vertrag wurde 
durch den Vertrag von Lissabon umbenannt und heißt jetzt Vertrag über die Arbeitsweise der Union. Der EU Vertrag ist im Namen unverändert geblieben. 

Die Abgeordneten haben also über die Änderungen im Vertrag von Nizza abgestimmt. Dies ist für den Bundestag wie auch den Bundesrat ein völlig normales Verfahren, das im Detail deutlich macht, worüber die Abgeordneten abstimmen, welche Bestimmungen im geltenden Nizza-Vertrag verändert wurden und welche nicht. Lediglich völlig neue Gesetze werden in einer "konsolidierten" Fassung beraten, Gesetzesänderungen in aller Regel nicht. Dabei muss man allerdings einräumen, dass es sich beim Vertrag von Lissabon um eine komplizierte und sehr umfangreiche Materie gehandelt hat. 

Der federführende EU-Ausschuss hat daher zwei Expertengespräche und eine Anhörung mit Sachverständigen durchgeführt, bei denen sich die Abgeordneten im Detail über den Sachverhalt unterrichten und ihre eigenen Fragen beantworten lassen konnten. Wer sich die Beschlussempfehlung des EU-Ausschusses zu der Sache durchliest, erkennt sehr schnell, dass es sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages bei den Beratungen nicht leicht gemacht haben. 

Wer zusätzlich den Vertrag von Lissabon als konsolidierten Text lesen 
wollte, konnte das mittels des EU-Ratsdok. Nr. 6655/08 selbstverständlich tun. 

Es ist also für die Entscheidung der Abgeordneten über einen Gesetzestext nicht immer erforderlich, dass bei der Beratung eine konsolidierte Fassung auf dem Tisch liegt. Notwendig, weil technisch selbstverständlich, ist das bei gänzlich neuen Gesetzen. Wichtiger ist, dass es sich bei der Beratungsgrundlage um einen fehlerfreien, von der Bundesregierung geprüften und autorisierten Gesetzentwurf handelt. Wenn zusätzlich eine konsolidierte Fassung verfügbar ist, umso besser. Sie verschafft dem Leser einen Eindruck, 
wie das Gesetz nach der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt aussehen wird. 
Aus der Sicht der Abgeordneten ist wichtiger zu wissen, worüber sie 
abstimmen. 
 

Mit freundlichen Grüßen 
Ilse Aigner 


Summa summarum,
sehr geehrte Frau Aigner,

sagen Sie mit Ihren "Also"-Sätzen ("Dabei handelt es sich nicht um eine "konsolidierte" Fassung des Vertrages von Lissabon...").
Es lag den MdBs keine offizielle, vollständige konsolidierte Fassung vor.
"Dabei muss man allerdings einräumen, dass es sich beim Vertrag von Lissabon um eine komplizierte und sehr umfangreiche Materie gehandelt hat. "
Da gebe ich Ihnen recht - ja,  der Stz gilt sogar für die  konsolidierte Fassungen, egal wer  diese konsolidierte.
Und weil das so ist, ist es eben völlig lebensfern, weltfremd und de facto unsachlich, davon zu sprechen, die MdBs hätten durch die Lektüre der  hunderte "wird ersetzt durch"- Formulierungen, durch "Expertengespräche" (die MdBs MÜSSEN selbst die Experten sein, was natürlich nicht gegen Beratungen spricht) und beschlußempfehlungen einen sachlich fundierten Zugang gehabt.

Zum Vergleich: für  die sog. EU-Verfassung lag eine konsolidierte Fassung vor. das kiloschwere Buch konnte bei der Bundeszentrale bestellt werden, und auch als .pdf lag es vor.

Angesichts meiner hohen Meinung von den Abgeordneten des Deutschen Bundestags, die  ein hohes Tagespensum abzuarbeiten haben, bin ich fest davon überzeugt, daß wohl nur eine Handvoll MdBs sich der Mühe unterzogen haben, sich mit "wird ersetzt durch, wird ergänzt um" - Formulierungen zu beschäftigen und allenfalls kursorisch  die inoffizielle EU-Rats-Fassung angesehen haben.

In einer Woche ist das Lesen, verstehen und  Diskutieren des gesamtwerks unmöglich - auch für Abgeordnete gilt das. Gelegentlich hört man von "Glaubwürdigkeitsdefiziten" der Politik. Hier liegt eins vor.

Mittlerweile klagt auch die Linke. Ich fordere von meinen  Abgeordneten, sich gegen das Überrumpeln durch die Exekutive zu wehren und  ihr Votum  zu widerrufen, öffentlich natürlich.

Mit freundlichen Grüßen
A.Hauß
 

(c) Andreas Hauß, Juni 2008
http://www.medienanalyse-international.de/ueberblick.html

Im Übrigen bewundere ich Frau Klarsfeld.