Drüggelte im Möhnethale
- mit Fotos aus dem MAI-Archiv sowie au naher und fernerer Verwandtschaft, danke! -

Drüggelte - ein versunkenes Dorf im Sauerland,  halbwegs im gedächtnis der sauerländer eigentlich nur noch durch die Drüggelter Kapelle.
Hier folgen einige Fotos und Erzählungen aus dem "Buch der Greise", eine Sammlung von Lebenserinerungen von Adolf, August, Wilhelm und Josef Hauß. Ein gewisses Maß an Besonderheit hat der Ort Drüggelte auch dadurch, weil er  eimal wieder "auftauchte" - nach der Bombardierung der Möhnetalsperre durch eine englische Spezialbombe 1943.
Der Gasthof Hauß war zugleich die Poststation: Pferdewechsel, Aufwärmen der Fahrgäste, Verladen der Post - all das  incl.. Friedrich Hauß hatte wohl nicht ahnen können, daß  die besten Tage seines Hauses vorbei waren, als die Autos aufkamen - und er mit seinen 10 Kindern  die Heimat 1908 zugunsten eines Stausees räumen mußte.

Die Staumauer  der Möhnetalsperre

Feier zur Einstauung 1913:

Die Spezialbombe als Kopie im Imperial War Museum:

Und hier das Video der  Hüpf-Bombe:
Dambuster Raid - LIVE test of a bouncing bomb

Bis heute, bis in die Bierwerbung,  ist  das Thema der Sprengung der  Talsperrenmauer im allgemeinen Bewußtsein der Briten  lebendig! [danke an N.]
Hier ein weiteres Bierwerbevideo mit dem Motiv der "bouncing bomb"...

Die geborstene Mauer 1943:

Da halfen auch die Fesselballons und Netze nicht. Der See war leer:

In Kriegszeiten sei dann  der Ort drüggelte in den grundmauern noch mal wieder zu sehen gewesen.

Flutfolgen:

 Operation Chastise
- umfangreiche Dokumentation des Ereignisses in Wikipedia 


Drüggelte

Das Buch der Greise

Vier Brüder  75-79-81-86- schreiben ein Buch mit vielen Bildern aus längst und endgültig vergangenen Zeiten und Stätten einer romantischen Jugend. Ich, der Jüngste, fange an. Ihr alle wisst, was ein Periskop ist: ein U-Boot streckt es aus, um über Wasser sehen zu können. Mein Periskop muss sehr lang sein, um unter Wasser die Stätten unserer Jugend wieder zu sehen. Wir wollen es etwa von der zweiten Brücke der Möhne aus  nach allen Seiten drehen - von dort aus  würde man wohl so ziemlich alle Häuser, Wälder, Felder und Weiden der alten Heimat sehen können.

Da wäre es ja wichtig, dass wir zunächst einmal unser Elternhaus in das Blickfeld nähmen. Am Fuße des Haarstranges lag es. Im Hintergrund die dunklen Fichten, die zur Mesenhelle, einem Laubwald hinführten. Links vom Haus war der große Garten für Gemüse und Obst, rechts der kleine Garten, der durchaus nicht klein war, mit der großen und kleinen Grotte (heute würde man Steingarten oder Alpinum sagen). Er war voll von verschlungenen Wegen und lauschigen Sitzplätzen. Hinter den Saalfenstern hatte Vater eine Sammlung von Gletschersteinen aus dem Bett der Möhne aufgebaut. Sie sahen teilweise wie versteinerte Schildkröten aus.

In den Hang der Haar hatte man eine Höhle gegraben und im Hintergrund eine Mauer durchgezogen. Sie staute kristallklares Wasser auf, das durch eine Leitung Haus und Ställe mit Wasser versorgte.  Da war zunächst wohl in dem ältesten Teil das alte Gasthaus. In der Mitte führte eine Freitreppe zur zweiteiligen Haustür. Recht und links waren zwei schmiedeeiserne Bänke mit Holzsitzen, auf denen wir so gerne an schönen Tagen saßen. Durch die Tür kam man in den Flur, links kam man in die Wirtsstube, ein langer Tisch mit Bank und Stühlen stand an der Fensterfront.


 

Ein kleiner Tisch mit Bank in der Ecke, am Eingang zur Küche.  Dort saß so gern der alte Arnold Schmitz, der Förster von Kommerzienrat Plange, sein Schwager,  alter ewiger Corpstudent mit vielen Schmissen, Danach Plantagenverwalter auf Java. Er hatte durch einen Jagdunfall den rechten Ringfinger abgeschossen. Er behauptete, dass er es absichtlich getan hätte, damit er nicht in Versuchung komme, zu heiraten. In seiner Junggesellenbude hatte er einen Fuchs, der ihn immer freudig begrüßte und wie eine Stola auf seiner Schulter Platz nahm. Wenn er in Schultens Jagdhütte von seinen Erlebnissen in Java erzählte, wurde es interessant. Er berichtete von einer Tigerjagd. Er hatte eine Falle gebaut mit einer Falltür und sie mit einer Ziege beködert.
Nachts wurde er von Malaien geweckt. Ein kapitaler Tiger hatte sich gefangen. Er hatte versucht, das mit Steinen beschwerte und mit Stricken gesicherte Dach anzuheben. Den Kopf  und eine Pranke hatte er bereits durchgebracht. Zitternd hielten seine Leute die Fackeln hoch, bis es ihm gelang, eine Kugel in den offenen Fang des Tigers zu setzen.
 

Ich habe manche Nacht in den Ferien mit in der Hütte verbracht und oft Sauen und in der Fütterung hinter der Hütte gesehen. Am Tage durfte ich dann mit einer kleinen Sechs-Millimeter kugel die Eichelhäher, die den Mais stibitzen wollten, abschiessen. 

Nun zurück in die Wirtsstube.
Es hängt wohl mit unserem Alter zusammnen, dass man alles so klar wieder vor Augen hat, als wäre es gestern gewesen. Rechts von der Tür war der Schnapstresen.  Mithilfe des klaren und kalten Quellwassers aus der Leitung konnte man ihn gut kühlen. Ein einfacher Schnaps kostete fünf Pfennig, ein großer zehn.
Die Postillione und manche Fuhrleute tranken stehenden Fußes eben einen zum Aufwärmen. Für die Postillione war es ein harter Dienst, wenn sie in kalten Wintertagen hoch auf dem Bock saßen und trotz Wind und Wetter ihr Ankunftssignal "Peter die Post ist da" bliesen. 


 

Tante Jettchen

Als sie ihren 30. Geburtstag feierte, da hatten  die Postillione sich verabredet und bliesen "Schier 30 Jahre bist du alt, hast manchen Sturm erlebt... Da werden bestimmt einige Schnäpse und Zigarren fällig gewesen sein. Tante Jettchen nahm so was bestimmt nicht übel. Abends saßen die Mühlenleute mit Wertmann und Gröblinghof an dem langen Tisch. Wenn dann zufällig  der alte Andras, "Nüsel" der Schmied auftauchte, musste er nach etlichen Schnäpsen "Zu Mantua in Banden" singen. Dann brachte man ihn auf die Palme, wenn man sagte: "Du bist jo nich wies, Mantua lich  jo nich in Banden, liecht jo in Italien!" Dann gebrauchte er ein einziges unparlamentarisches Wort und sang weiter. Das Regiment in der Wirtsstube führte Tante Jettchen, immer eine gute Seele, die es verstand, Ruhe und Ordnung unter den Raubeinen zu halten.
[Anmerkung A.H.: das hier erwähnte  deutschnationale Andreas-Hofer-Lied wurde bekannter als "Dem Morgenrot entgegen", offenkundig auch etwas frischer gesungen.]


[Urgroßeltern mit ihren 10 Kindern vermutlich 1895, vemutlich  wie folgt  von  links nach rechts: 
Oben: Tante Jettchen ? Fritz, Franziska, Hermine, Adolf 
Mitte: Urgroßvater, Urgroßmutter mit Caroline, Franz, Maria 
Unten: Josef, August, Wilhelm]

Eine Hauptperson muss auch noch unbedingt geschildert werden:   es war der gute alte Kanonenofen. Er tat seinen Dienst auch im strengsten Winter, daneben stand der Kohlenkasten mit Stückkohlen und "Grutt". Diese Staubkohle übergoss man mit Wasser. Wenn man ihn einfüllte, gab es eine Unmenge Qualm. Wir machten uns als Kinder einen Spaß daraus, ein brennendes Streichholz hineinzuwerfen. Dann brannte das Gas mit geller Flamme weg. Nachmittags waren kaum Gäste da. Dann konnten wir unsere Schularbeiten machen. Bei schlechtem Wetter wurde Mühle und Halma gespielt. Auch ein Knickerspiel  mit geschliffenen großen Bohnen war beliebt.
Die Mädchen spielten ein eigenartiges Ballspiel, bei dem die Knochen aus dem Kniegelenk der Schafe eine Rolle spielten. Es gehörte viel Geschicklichkeit dazu. 

Ab und zu wurde man gestört von einem Gast, Herrn Grothe. Er war auch ein verkrachter Student. Sein Brot verdiente er mit dem Kastrieren von Schweinen, Schafen und anderem Vieh.  Wenn er herein kam, wussten wir schon, was er verlangte. Ein Butterbrot mit Rehbraten. Ob er immer Rehbraten bekam, weiß nur der liebe Gott und Tante Jettchen. Wir hatten ja oft Wild in der Höhle über einem Eishaufen hängen, ein idealer Platz dafür. 

Nun wollen wir mal über den Flur auf die andere Seite, in die gute Stube, die Passagierstube gehen. Im Flur können wir uns noch eben die Hände waschen. Ein kleiner Hahn mit einem eisernen Ablaufbecken genügt den bescheidenen Ansprüchen. Recht daneben ist ein kleiner Zigarettenautomat der Firma Reemtsma Dresden. Für 10 Pfennig bekam man 10 Zigaretten.
 

Da neben war eine Schalttafel. Mit Batterien wurde eine Anlage betätigt, die mit Klingelzeichen in den Garten und die Fremdenzimmer hinein Bedienung herbeirufen konnte. Im Flur war aber auch ein einfacher Schellenzug, der den gleichen Zweck erfüllte. Die Passagierstube war nicht nur für die Reisenden, die die Post benutzen wollten gedacht. Dort versammelten sich auch jeden Abend die Honoratioren von Drüggelte und Umgegend. Mittelpunkt war doch immer unsere Mutter, die unter dem Namen Mutter Hauß weit und breit bekannt war.

Ihre Kochkünste waren unübertroffen.  An dem langen Tisch wurde meist in zwei Partien Skat gespielt. 

Für uns Kinder war Hubert Schäferhoff ein gern gesehener Gast. Er zog immer ein paar Äpfel oder Birnen aus der Tasche. 
Unser guter Vater machte einen sehr würdigen Eindruck in der Runde.

Gern erinnert man sich an die Treibjagden. Wenn die damals gar nicht so alten, aber weißbärtigen Männer, Schulte-Drüggelte, Schulte-Günne, unser Vater, Kommerzienrat Plange u.a. von der Jagd kamen und ihre Erlebnisse erzählten, wurde man an alte Germanen erinnert. 

Überhaupt die Jagd:

Als kleiner Knirps sah ich Vater bei kaltem Wetter mit dem alten Tell aus dem Hause kommen. Ich war gerade mit Grundmanns Fittkert am Ballspielen, warf alles hin und nichts wie hinterher. Vater: "Junge, setz dir doch wenigsten eine Mütze auf!" Ich: "och wenn ich die Hände in der Buxentasche habe, dann friert mich der Kopf nicht" Passion, Passion. Verweichlicht waren wir ja nicht, man denke nur an die kalten Schlafzimmer. 
 
 


 

Der Gasthof-Eingang, mit Treff

Friedrich Hauß und Frau Franziska, geb. Pieper:

Und der alte Herr  solo:
 
 
 


 


 
 
 



[Transskription von Heidi P.-H., herzlichen Dank!]:
Nachtrag - von August

Was die 4 Brüder erlebt an Freud und Leid, in Krieg und Frieden müssen sie schon selbst berichten, da der eine nur stückweise vom anderen berichten könnte. Es kann auch nur in großen Strichen ein Bild gezeichnet werden u. vieles behält man für sich. Man verlangt ja auch nicht vom anderen, dass er eine Beichte bis in alle Einzelheiten ablegt. Nun läuft man bei einem solchen Bericht leicht Gefahr, das zu betonen, was das Ansehen hebt und die Fehlgriffe, die jedem unterlaufen, zu beschönigen oder gar zu verschweigen. Es wird deshalb bei nüchternen Erwähnungen des Einzelschicksals  bleiben und das genügt ja auch für unsere Kinder. Die Enkelkinder interessiert das wohl erst später, wenn der Sturm der Jugend dem reiferen Alter gewichen ist.

Ich wurde als 7. Kind meiner Mutter Franziska, geb. Pieper (geb. 21. III. 1857 ; gest. 12. V. 1917) und meines Vaters Friedrich Wilh. Hauß (geb. 3. XI. 1843; gest. 28.VI. 1901) am 4. März 1887 in Drüggelte Kreis Soest geboren. Ich machte als Kind eine schwere 
Typhus-Erkrankung durch. Mit 6 Jahren ging ich in Delecke in die Volksschule. Die Lehrer waren tüchtig u. haben uns allerlei beigebracht - wenn nötig mit dem "gelben Onkel".
Später erhielt ich zusammen mit meinem 2 Jahre jüngeren Bruder Franz Lateinunterricht

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bei jungen Geistlichen in Körbecke. Dann kamen wir nach Canstein Kreis Brilon zu dem Vikar Schladoer, der aus Drüggelte stammte. Wir wohnten bei ihm, bekamen Lateinunterricht und gingen zur Dorfschule. Nach einem Jahr machten wir das Aufnahme-Examen auf Quarta des humanistischen Gymnasiums in Soest. Unser Ordinarius war Professor Wagner. Auf der Quarta kam eine weitere Fremdsprache dazu, Französisch.

Ein dritter Bruder, Joseph, kam von der Rektoratsschule in Meschede. Der fleißigste und  bravste von uns dreien war "ich" natürlich!!! Wer lacht da?? Ich habe meinem Bruder Joseph das Leben oft schwer gemacht und leiste heute noch Abbitte. Joseph war 2 Klassen vorne. Mit etwas Nachhilfe schaffte ich es ohne Unfälle zum Einjährigen. Ich wollte Maler werden angeregt von dem Düßeldorfer Maler Arthur Wansleben, von dem ich heute noch drei Ölstücke besitze.

Der Vater war 1901 schon gestorben und unsere Mutter wollte auf Nummer Sicher gehen. Ich trat als mittlerer Beamtenanwärter bei der Justiz in Arnsberg meinen Dienst an. Nach einem Jahr kam ich an das große Amtsgericht Münster und wieder nach einem Jahr an das Landgericht u. die Staatsanwaltschaft Bielefeld. Nach dem Examen 1909 trat ich als Einjährig-Freiwilliger in die 4. Komp. des Inftr. Rgts. 13 in Münster ein. Nach 1/2 Jahr war ich Gefreiter u. nach 3/4 Jahren Unteroffizier. Nach diesem Jahr kam ich an das Amtsgericht Ahaus. Ich meldete mich in Gehrock, Cylinder u. weißen Handschuhen bei meinem Aufsichtsrichter Geheimrat Schecke. So war das damals Vorschrift.

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Geheimrat Schecke stammte aus Arnsberg - Sohn eines Rechtsanwalts. Wie ich zu ihm kam, sagte er zu mir: "Ihren Vater habe ich gut gekannt, ich bin oft in Ihrem elterlichen Hause gewesen." Der älteste Beamte holte den jüngsten des Amtsgerichts um 11 Uhr zum Frühschoppen ab. Ja, das waren Zeiten! Ich war 3 Jahre in Ahaus - das ist meine schönste Erinnerung an die Justiz. Der Dienst wurde routinemäßig und zügig erledigt und die Jagd wurde ganz groß geschrieben. Überall bei den Gutsbesitzern, die teilweise als Schöffen in Ahaus mitwirkten, war man als Jagdgast willkommen. Und Justizrat Ziegler, der die Graser-Jagd bei Ahaus gepachtet hatte, stellet mir sein Revier zur Verfügung, der er schwer erkrankt war. Und viel habe ich mit Amtmann Fischer aus Wessum - einem vorbildlichen Jäger - zusammen gejagt. Er war früher beim Grafen Esterhazy in Ungarn gewesen. Seine beiden Langhaarrüden (die zu der Zeit in Tischhöhe gezüchtet wurden ) hießen Schenkwald und Harras und waren allerbeste Gebrauchshunde mit feinsten Nasen. In die Ahauser Zeit fallen auch meine militärischen Übungen von je 8 Wochen beim Inftr. Rgt 59 

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in Deutsch - Eylau - Westpr. Von da war ich auf den Truppenübungsplätzen Gruppe bei Graudenz und Arys in Ostpr. an der polnischen Grenze, wo sich Füchse u. Dachse  "gute Nacht" sagten. Von Ahaus wurde ich an das Amtsgericht Ahlen versetzt. Von dort zog ich gleich zu Anfang der I. Weltkrieges an die Front. Ich habe als Leutnant am Krieg teilgenommen. Vor Verdun führte ich die 4. Komp. des Res. Regts. 13 und habe vor allem vom Anfang der Verdun - Offensive bis zu meiner Verschüttung im Juli 16 an den harten Kämpfen teilgenommen. Ich kam dann in die Heimat und war dauernd garnisondienstfähig Heimat. Ich hatte einen schweren Kopfschuß (?) abbekommen. Ich kam kurz zum Ers.Bat. u. dann als Komp.-Führer Zum Bekleidungs-Instandsetzungsamt Düßeldorf. Anfang Mai 17 kam ich wieder k. v. zum Landw. Rgt. 15; dort war ich Komp.-Führer bis Kriegsschluß. Nach dem Kriege erhielt ich meine Anstellung als Amtsgerichtssekretär beim Amtsgericht Medebach. Später hieß man Justizobersekretär und Inspektor. Ich litt ständig stark unter den Kriegseinwirkungen und wurde, da ich sehr oft aussetzen musste, am 
1. / I. - 1924 pensioniert. Am 7. / VIII. - 1919 habe ich meine Frau Nelly geb. Ulrich, Tochter des Sanitätsrats Dr. Ulrich, Belecke, geheiratet. Wir haben 2 Kinder, einen Sohn und 1 Tochter, und jetzt 6 Enkelkinder. 
Wie wir noch in der

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alten Heimat waren, erschien dort als Sommerfrischler der Düßeldorfer Landschaftsmaler Arthur Wansleben
[Bild: Aus dem Möhnethal]
mit seiner Frau aus Düßeldorf. Ich habe ihn als kleiner Knirps oft beim Malen voller Bewunderung zugesehen u. das weckte später in mir den Wunsch, auch Maler zu werden. Es kam anders.  Nach meiner Pensionierung wohnte ich im elterlichen Haus meiner Frau bis wir 1938 das Besitztum an die Siepmannwerke verkauften und nach Cappel bei Lippstadt verzogen. Dort richteten wir uns in einem schönen alten Fachwerkhaus auf dem Stift - dem lande Lippe gehörig - häuslich ein. zu unserer Wohnung gehört ein schöner, großer Garten. Ich habe viel seltene Gehölze, Stauden - aber besonders viel Alpenpflanzen in den Garten gebracht. Ich habe selbst in Tirol im Steyr-Tal - Ober-Österreich u. in den Alpen in Bayern gesammelt u. habe von den Inspektoren einer Reihe botanischer Gärten Seltenheiten bekommen. Noch jetzt habe ich von den bot. Gärten Hamburg, Münster, Mainz u. Nymphenburg die Samenkataloge und Samen bekommen. Im ganzen habe ich 50 Aussaaten gemacht, die letzten. Zwischendurch habe ich immer gemalt - meistens Jagdstücke in Öl u. habe radiert u. auf der eigenen Kupferdruckpresse Abzüge gemacht. Es sind von 
 

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mir Bilder nach Berlin, Casablanca, New York, Ottawa u. in die engere u. weitere Heimat gegangen.
Mein beschauliches Leben in Cappel wurde einmal jäh unterbrochen, wie mich Hitler noch mal zu den Fahnen rief. Ich tat fast 4 Jahre Dienst als Hauptmann bei den Landesschützen in der Heimat. Einmal hatte ich einen Auftrag nach Krakau. 
Während dieser Zeit war ich fast 1 Jahr im Kreise Melle u. wurde oft zu prachtvollen Brackenjagden ins Wiehengebirge eingeladen. Die Erlebnisse sind unvergeßlich für mich. In der Meppener Gegend habe ich einige Birkhühner geschoßen. Im übrigen war der Dienst nicht sehr reizvoll. Am 1./ IV. -44 wurde ich im Zuge der Verjüngung des Off.Corps u. wegen meines Gesundheitszustands mit allen Ehren u. dem Dank des Vaterlandes - Gott sei Dank - zu Muttern entlassen. Ich bin froh, dass ich das bittere Ende als Soldat nicht miterlebt habe.
Vor einigen Jahren hatte ich nach einem Aufenthalt in den oberbayr. Bergen eine schwere Herzerkrankung mit Rippenfellentzündung. Ich mußte 5 Wochen ins Krankenhaus. ich bin jetzt mit "79" nur noch eine halbe Portion u. nach meinem bewegten aber schönen Leben bereite ich mich auf den letzten Pirschgang vor. Meine Enkelkinder hängen an mir u. ich muß ihnen aus meinem reichen
 


Jägerleben erzählen. Wenn ich dann zu dick aufgetragen habe, wenden sie sich an Oma    und fragen: "Ja, Oma?" Dann läßt mich meine Frau, deren Vater auch Jäger war, nicht im Stich.-
Ich habe in meinem langen Jägerleben viel Waidmannsheil gehabt. Mit Ausnahme von Gams, Fischotter und Wildgans habe ich so ziemlich alles in der Heimat vorkommende Wild erlegt. Ich habe in Tirol einen Auerhahn erlegt, im Siegerland, Emsland, an der holl. Grenze, bei Meppen und bei Aschendorf die Birkhuhnbalz erlebt - neben Schnepfenstrich die Jagdarten, die mich am meisten befriedigten. Man war allein und konnte sich ganz dem Zauber u. der Stimmung der Natur hingeben. Zwei geweihte Hirsche, Kahlwild, 1 Stück Sikawild, viele Sauen, Rehböcke, Kitzen, unendlich viel Kaninchen, Hasen, Enten, Füchse etc. stehen in meinem Jagdtagebuch verzeichnet. 
Seit 1962 jage ich nicht mehr. Ich habe das goldene Treuezeichen des D. J. V. u. bin Ehrenmitglied des Vereins der großen schwarzweißen Münsterländer. Ich habe meine Hunde selbst gezüchtet (Zwinger v. d. Külbe), abgeführt und auf Suchen geführt und gute Erfolge gehabt. Auch habe ich oft das Amt des Preisrichters übernommen. So habe ich unter ein langes, schönes Jägerleben einen Schlußstrich gezogen u. lasse den Finger, der sich so oft krümmte, um mit Blitz und Donnerkrachen das Leben einer Kreatur auszulöschen, nun endgültig gerade. Ich mußte ihn auch oft gerade lassen, wenn mir an sich die Möglichkeit gegeben war, Dampf zu geben - auch wenn ein Kronenhirsch 
 

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vor der Büchse stand, den Hermann Göring lieber selbst erlegte.-
Eine Episode will ich noch anführen: Dr. Mertens Lippstadt, mit dem ich befreundet war, hatte das Körbecker Revier an der Möhnetalsperre gepachtet. Als er im Winter 39/40 als Hauptm. an der Front stand, hatte er mir das Revier mit Jagdhaus zur Verfügung gestellt. Ich saß öfter im Haus Daheim abends mit den Herren eines Pionier-Batls. zusammen.
Kommandeur war ein Major Dr. Hammitsch, Professor an der Akademie Dresden - ein Schwager Adolf Hitlers[2. Ehemann der Hitler-Schwester Raubal]. Als ich im Winter eine Drückjagd angesetzt hatte, stellte Major Hammitsch Pioniere als Treiber zur Verfügung. Beim ersten Treiben stand ich  auf dem 
Rückwechsel.  Kaum hatte ich die Treiber angehen laßen, da sprengten die Hunde eine Rotte Sauen. Ich schoß auf schmaler Schneise einen hochflüchtigen Keiler mit Blattschuß.
Einen weiteren Keiler schoß ich im Jahr darauf auf Urlaub in demselben Revier. Dr. Hammitsch sympathisierte übrigens nicht mit seinem Schwager Hitler.  Vor der Finder- und Packermeute des großen Saujägers Koch aus Niedersfeld schoß ich in einem Winter 
4 Sauen. Im ersten Weltkrieg machte ich in Ardon südl. Laron eine Doublette auf Sauen und eine streckte ich, als wir vor Verdun in Ruhe lagen bei Damvillers. Auf winterlichen Treibjagden habe ich noch eine Reihe bei Treib- und Drückjagden erlegt. 
So kann ich auf ein reiches Jägerleben zurückblicken. Ich habe auf der Insel Föhr Wildenten 
 

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in großer Zahl geschoßen und Hunderte in Frankreich u. in der Heimat. Man kann nicht alles schildern; es würde zu weit führen. Aber eins möchte ich in Bezug auf das Waidwerk noch erwähnen: Ich bin ehrlich genug, zu bekennen, daß der Beutetrieb - Wild zu erlegen - wenn auch auf anständige, dem Wild Schmerzen zu ersparende Art, bei mir wie auch bei den meisten Flinte und Büchse führenden Menschen - ich will sie beileibe nicht alle Waidmänner u. Jäger im guten Sinne nennen - der Hauptgrund des Jagens gewesen ist. Es ist der Urinstinkt unserer Vorfahren  in längst vergangener Zeit. Sie brachten ihrer Sippe das erlegte Wild zur Stillung ihres Hungers. Und das sitzt uns noch in der  Jacke.
Heute kommt es nicht mehr darauf an, wieviel einer von der Jagd, der Biologie u. der jagdlichen Anständigkeit versteht - heute heißt es, was kannst Du zahlen. Es wurde 1962 höchste Zeit, daß ich meine Jägerlaufbahn beendete. Es bleibt eine schöne Erinnerung. 
Einige seltene Stücke hängen zwischen den Gehörnen und Geweihen: Ein 15jähriger Mümmelmann mit Sechsergehörn, eine Kreuzung von Ringeltaube und Eichelhäher, ein Gehörn von 30 cm Höhe und 20 cm Auslage, ein Canes vulpes communis maritimus, ein wäßernder oder wäßender Fuchs etc.

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Von all den Schätzen, die mit viel Liebe in den Garten gebracht sind, die an den Wänden hängen, in der Truhe ruhen, die vielen Basteleien, mit denen ich so viel Freude gemacht habe, kann man nichts mitnehmen. Aber ich weiß, daß mancher der von den Erzeugnißen etwas nach meinem Abgang bekommt, sagt, das stammt von dem alten Opa aus Cappel. Es ist nicht alles hohe Kunst. Ich bin gern zufrieden, wenn die Sachen Freude machen.-

Wenn ich nun zum Schluß meines in großen Strichen gezeichneten Lebenslaufes gekommen bin, dann ist das eine Rückschau. Morgen, am 10 / V - 66 treffen wir 4 Überlebenden - Adolf (86), Joseph (81), meine Geringigkeit (79) u. Wilhelm (75) in Soest ein zu einem Gedankenaustausch. Wir wollen dann in Liebe unserer Eltern u. der Geschwister gedenken, die von uns gegangen sind, u. auch an Karoline wollen wir denken, die ihren Wilhelm nicht allein laßen will. Wir 4 haben zusammen 321 Jahre. Da haben wir unsere Sache eigentlich ganz gut gemacht. Ich bin überzeugt, daß wir das hohe Alter auch z.T. der konservierenden Wirkung des Tabakrauches zu verdanken haben.

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Und nun wollen wir uns alle vornehmen, noch etwas auf den Beinen zu bleiben. Wir 
wollen dankbar und zufrieden sein, daß wir den Vorzug hatten, so lange dabei zu sein.



Caroline schreibt:
[Transskription von Heidi P.-H., herzlichen Dank!]

Herstelle, d. 5.6.1966.

1)
Nun soll die Jüngste von der Sippe noch etwas dazu schreiben? 
Ich bin am 27.8.1892
geboren u. hätte meiner Mutter bald das Leben gekostet. Dr. Tiele, welcher mit den
damaligen geringen Mitteln das Wunder vollbrachte und uns allen unsere gute Mutter am
Leben erhielt, wurde mein Pate. Wie erzählt wird, ist über das 12. Kind solche Freude
gewesen wie Dr. T. sagte, er noch nie erlebt hätte. Vor der Taufe haben Grundmanns
Kinder und meine Geschwister sich auf die Erde setzen müssen im großen Kreis. Frau
Knappstein, die weise Frau, hat das Kind jedem auf den Schoss gegeben. Am Abend hat
Onkel Rat die alte Frau Kampschulte am Arm nach Hause gebracht. Sie hätte nur immer
gesagt: "Och, Herr Rat, was freu ich mir." Also, getauft bin ich sogar 2x. -
Als Kind streichelte ich so gern Onkel Rat seinen Specknacken. Wenn man ihn fragte::
"Onkel Rat, was hast du da?", sagte er: Kind, das ist nur Kümmerspeck."

2)
Die grosse Freiheit in Feld u. Wald, wie meine Brüder sie hatten, war für uns Mädchen
nicht erlaubt. Im Sommer spielte ich viel in Grundmanns "Höffken." Als Kind hat man sich
auf jede Jahreszeit gefreut, bes. auch auf den Winter. In der Woche spielten wir viel
Knochenball, was Wilh. schon erwähnte. Ein Spiel hatte vier Türen, "Ticktack, Steinert,
Gackert, Bückert." Jeder Tür hatte dann wieder vier Teile. Wir fertigten uns manches Spiel
selbst u. spielten mit bunten Bohnen. Sehr gern erinnere ich mich noch an die Sonntage
im Winter, wenn mein Bruder August zur Erheiterung Schattenbilder machte, mit
Bandwurm und Kahn ziehen. Zuschauer waren viele da. Grundmanns waren immer dabei.
Wenn dann hinterher Grundmanns Auguste, unsere spätere liebe Schwägerin, noch
Klavier spielte und sang, war ich zu Tränen gerührt. Denkt bitte noch an Kaplan Boitefeld,
mit den tollen Hirschen, u. der Weinprobe bei uns, als er die Strafversetzung nach
Hellefeld bekam. Ich heiratete am 14.10.1914 meinen treuen Wilhelm Bellmann geb. in
Arnsberg. Die Mutter stammt aus der Familie Lehrer Dransfeld in Wamel, der erste
Normallehrer nach Overberg.

3)
Der Bruder von Wilh. Mutter ist Euch allen bekannt, Eltern Dransfeld Besitzer vom
Haarhof. Wir hatten 5 Kinder. Das erste Kind, ein kleines Mädchen, starb mit 1/4 Jahr.
Franz (17.10.43) blieb als Hauptm. u. Batt. Führer in Russland verschollen. Die größte
Freude ist es jetzt für uns, wenn die Kinder und Enkelkinder kommen. Wilh. geht es dem

Alter entsprechend recht gut. Er sitzt viel in unserem schönen Garten. Mir ist jetzt jede
Arbeit verboten. Ich muss viel liegen, damit es erträglich ist mit der Herznot (Hätten wir
unsere gute Anna nicht!) Ich will Euch nichts vorklagen. Ihr habt ja auch alle ein
Wehwehchen. Wie gern wäre ich bei dem Treffen in Soest mit dabei gewesen.
Hauptsache, wenn wir uns alle da oben wiedertreffen, wir 12 mit unseren lieben
Eltern -
Im Juli 1943, Franz sein letzter Urlaub, sind Franz, Ännchen und ich auch an der leeren
Sperre gewesen. Franz hat gute Aufnahmen gemacht von den Grundrissen von unserem
Haus und Grundm. Haus. Es war alles trocken u. wir konnten überall hingehen. Die Tür
vom "grossen" Garten

4)
hing noch in einer Angel. Die Pfeiler vom Hoftor waren, wenigstens das Oberteil,
umgefallen. Bei Grundmanns Mühle stand ein Ackerwagen. Da war noch viel abzufahren.
Ihr hättet die Getriebe alle gekannt. Den Eingang vom Wasserkeller konnten wir nicht
finden. Ich stelle die Bilder gern zur Verfügung. Bitte aber um Rückgabe. Von Onkel Rat u.
Hubert Schäferhof sind auch noch Bilder da. Kommet und sehet! -
Nochmal O. Rat. Mutter musste ihm im Winter immer Mettwürste machen. O. Rat sagte:
"Frau Hauß, tuen Sie aber viel Knoblauch drin, dann mag sie mein Schwiegersohn nicht."
Wenn O. Rat nicht bei uns war, lebte er bei seiner Tochter in Gummersbach.
 

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Lieber Wilhelm, ob Ihr meinen Schrieb dabeisetzt, überlasse ich Euch. Auf Fehler kannst
du, 1. Lehrer, durchsehen, ich bin nicht in Form. Lasst aber doch die ganzen Erinnerungen
nur für uns, nicht in die Öffentlichkeit. Wer denkt heute in dieser Welt, die sich so geändert
hat, an Hauß in Drüggelte? Fällt mit gerade ein: Nübel war mal als Zeuge in Soest vor
Gericht geladen. O. R. war Richter. Als Nübel hereinkam, sagte O. Rat: " Sieh da (to?),
Schäpers Nübel! "
In diesem Monat kommt A. mit Familie. Wilh. hat sich auch angemeldet. Er hat nur wenig
Zeit. Zuweilen muss er ausspannen. Seine Kriegsverwundung macht ihm viel
Beschwerden. Liesel hat sehr viel Arbeit. Sie schaffte es nicht allein, hat jetzt Hülfe. Seid
alle, alle ganz herzlich gegrüßt von Wilh. u. Caroline
(*Bitte an Menden weitergeben)


Auszug aus einem Brief:
Menden, 13.3.67
... Halte Dich weiter tapfer. Hier schicke ich Dir die Lebenserinnerungen von Dir und August. Sie können nach Belieben noch redigiert und ergänzt werden. Wir könnten noch Erinnerungen an unsere Eltern u. Geschwister hinzufügen. ... der vielleicht eine geeignete Form finden könnte, die den Nachfahren manches sagen könnte, was sonst der Vergessenheit anheimfällt. Fritz Koester hat viel über unsere väterlichen Vorfahren erforscht.
Joseph und Änne.

 

  (c) Andreas Hauß, Juni  2008 und Februar 2009. Danke an die Cousinen Angelika und  Veronika.
http://www.medienanalyse-international.de/ueberblick.html

Im Übrigen bewundere ich Frau Klarsfeld.