Abgekühlt: Rückblick auf einen heissen Sommer

Von Matthias Gockel

Im Mai und Juni 2001 herrschte Begeisterung in der bundesdeutschen Medienlandschaft.[1] "Erstmals", jubelte n-tv am 25. Mai 2001, sei es gelungen, Slobodan Milosevic "in seiner Heimat offiziell mit Kriegsverbrechen in Verbindung" zu bringen. Angeblich habe er "die Vernichtung von Beweismitteln zu Verbrechen im Kosovo angeordnet". Hauptakteur bei der PR-Kampagne vor Ort war Dragan Karleusa, der im serbischen Innenministerium für Verbrechensbekämpfung zuständig war und nach Bekanntwerden der ersten Gerüchte als Leiter einer dubiosen "Arbeitsgruppe" eingesetzt wurde. Seine Aufgabe bestand darin, durch Bekanntgabe neuer Details, seien sie noch so phantastisch, die Öffentlichkeit einige Wochen lang bei Laune zu halten und auf die von den Paten in Washington und Berlin geforderte Auslieferung von Milosevic einzustimmen. "To this end," resümmierte der Londoner Observer am 24. Juni 2001 ebenso zynisch wie anerkennend, "the details…have been strategically leaked, as the noose around Milosevic and his closest allies has gradually been tightened." Der Expräsident saß seit dem 1. April 2001 in Untersuchungshaft, aber ausser kleineren Vergehen im Bereich Korruption und Amtsmissbrauch fanden die Ermittler keinerlei Anhaltspunkte, so dass man offenbar befürchtete, innerhalb der vorgesehenen Frist von 90 Tagen keine hinreichend dramatische Anklageschrift zustande zu bekommen. Der Reisser von den Leichen im Kühllaster und den Massengräbern war die richtige story zum richtigen Zeitpunkt.

Die Hauptpunkte sind bekannt: Milosevic habe eine Anweisung erteilt, "alle Beweise" für Opfer unter der kosovo-albanischen Zivilbevölkerung "zu entfernen". Bei einem dieser "Beweise" habe es sich um 50 Leichen gehandelt, "die in einem in der Donau versenkten Kühllastwagen gefunden worden waren" (n-tv). Die Leichen, deren genaue Zahl erheblichen Schwankungen unterworfen war, seien weitertransportiert und schließlich in der Nähe von Belgrad beerdigt worden. Die Rheinische Post wusste am 3. Juni 2001 genau Bescheid: "In einem Massengrab in der Nähe der jugoslawischen Hauptstadt sind 86 im Kosovo ermordete Albaner entdeckt worden … Es handelt sich um Opfer eines Massakers, deren Leichen in einem Kühlwagen nach Serbien gebracht wurden und im Mai 1999 in der Donau versenkt werden sollten. Der LKW wurde aber entdeckt, und die Polizei hatte daraufhin die Leichen in unbekannte Richtung abtransportiert. Der Fall wurde zum Staatsgeheimnis erklärt".

18 Monate später ist festzustellen: sowohl die These vom großangelegten cover-up als auch die Behauptung, die Leichen aus dem Laster seien in Massengräbern bei Belgrad beerdigt worden, haben sich nicht bewahrheitet – trotz erheblichen Aufwands der Belgrader Justizbehörden und ihren Vorgesetzten in Den Haag. Auch die These von einem "Staatsgeheimnis" ist nicht stichhaltig. Dies lässt sich belegen anhand einer Analyse und eines Vergleichs der entsprechenden Aussagen von Zeugen der Anklage im Haager "Jahrhundert-Prozess" bzw. "Zirkus" (Zoran Djindjic).

Cover-up?

Der ehemalige Staatssicherheitschef Radomir Markovic, den die Anklage in Den Haag am 25. Juli 2002 als Kronzeugen präsentierte, weil er im März 1999 an einem Treffen mit Milosevic, auf dem das Täuschungsmanöver angeblich geplant wurde, teilnahm, verneinte im Kreuzverhör den wichtigsten Vorwurf der Anklage, der drei Tage zuvor an derselben Stelle von Karleusa – unter Berufung auf Markovic! – noch bejaht worden war. Es habe nie einen Befehl zur Spurenverwischung gegeben, ganz zu schweigen von Vertreibungsplänen und anderen alten Hufeisen. Vielmehr habe der Schutz von Zivilisten auch bei der Bekämpfung der UCK eine wichtige Rolle gespielt. Dass das nicht immer einfach war, wird deutlich, wenn man sich die Aussagen eines weiteren Insiders, der am 9. Juli 2002 unter dem Pseudonym "K25" auftrat, ansieht. Als Mitglied einer Sondereinheit der Polizei hatte er 1998/99 an Anti-Terror-Einsätzen teilgenommen. Er bezeugte, dass UCK-Kämpfer sich oft unter Zivilisten, die aus dem Kampfgebiet evakuiert wurden, mischten und die jugoslawische Armee ausdrückliche Anweisungen hatte, in solchen Fällen nicht zu feuern, denn der Schutz von Zivilisten hatte oberste Priorität.[2] Auch die Tatsache, dass UCK-Einheiten bei ihrem heroischen Kampf gegen die "serbischen Barbaren" – so der Zeuge X. Beqiri am 5. Juni 2002[3] – häufig in Zivilkleidung agierten, wie ein anderer Zeuge am 6. Mai 2002 bestätigte, machte die Sache nicht einfacher.

Doch zurück zu Markovic. Der Kronzeuge der Anklage behauptete Dinge, die im krassen Widerspruch zum Gesamtkonstrukt der Anklage standen. Kein Wunder also, dass man sich veranlasst sah, ihn zu diskreditieren und kurzfristig den Beamten vorlud, der im Auftrag von Karleusas "Arbeitsgruppe" im Frühjahr 2001 mehrere Interviews mit Markovic geführt hatte. Sein Name: Zoran Stijovic. Am 16. August 2002 erhielt er den Vorladungsbefehl, am 5. September erschien er im Gerichtssaal, gerade noch rechtzeitig vor Abschluss der ersten Kosovo-Runde. Die Absicht war offenkundig, wie der Vorsitzende Richter Richard May bemerkte: "The purpose of calling the witness is obviously to produce evidence that Mr. Markovic didn’t tell the truth." Jedoch wies Stijovic schon zu Beginn darauf hin, dass der schriftliche Bericht, auf den die Anklage sich stützte, kein gerichtstaugliches Dokument sei, da es sich lediglich um ein Gesprächsprotokoll gehandelt habe. Er selbst sei überrascht, dass es in Den Haag überhaupt vorliege, denn Substanz und Themen des Berichts verlangten eingehendere Untersuchungen, bevor ein Gerichtsverfahren eröffnet werden könne. In Serbien sei es üblich, in schwerwiegenden Fällen erst einmal die Fakten zu überprüfen, bevor die Ermittlungsbehörden eingeschaltet werden.

Stijovic insistierte zwar, dass der Anteil von Markovic am Zustandekommen des Protokolls größer gewesen sei als von diesem zugegeben wurde, aber er stimmte der für die Anklage so peinlichen Aussage am entscheidenden Punkt zu: der Befehl zum Aufräumen der Gefechtsfelder sei kein Befehl zur Spurenverwischung und schon gar nicht zur Vernichtung von Beweismitteln gewesen. Im Gegenteil. Es sei darum gegangen – hier wies Stijovic auf seine eigenen Arbeitserfahrungen während der UCK-Offensive im Frühjahr 1999 hin, von denen die Anklage offenbar keinen blassen Schimmer hatte –, einer möglichen Manipulation der Leichen entgegenzuwirken ("to stop any possible manipulation"). Stijovic bezeugte, dass man auch im Kriegszustand bemüht war, die entsprechenden Anweisungen – Feststellung der Todesursache, Identifikation, Rückgabe an die Familien – in der Praxis zu befolgen und unterstrich Milosevics Position, als dieser behauptete: "‘clean-up’ did not mean cover up. On the contrary, it meant the legal procedures of establishing the cause of death of certain persons, burying them, informing the families, et cetera." Stijovics Replik: "Yes, and that is why I’m saying this." Die französische Version des Transkripts ist noch deutlicher: "Je disais précisement la même chose." "Ich sagte genau dasselbe."

Interessant ist in diesem Zusammenhag auch Stijovics Aussage, dass ein Verbleib der serbischen Polizeieinheiten in Racak nach dem mehrstündigen Feuergefecht mit UCK-Einheiten am 15. Januar 1999, eventuelle Manipulationen der Leichen oder des Tatorts schon im Vorfeld hätte unterbinden können. Die OSZE-Fachleute hatten damals keine Gelegenheit erhalten, die für eine Untersuchung notwendigen Maßnahmen (Absperrung des Gebietes, Sicherung von Beweisen etc.) zu treffen. Sowohl die UCK als auch der Chef der Kosovo Verification Mission (KVM) William Walker waren hauptsächlich an der Weiterverwendung des Ereignisses zu Kriegszwecken und einer dementsprechenden Medieninszenierung interessiert.

Der tolle Kühllaster

Die Geschichte vom Kühllaster sollte eine Verbindung zwischen den Kämpfen im Kosovo und den im Mai 2001 plötzlich entdeckten Gräbern in Zentralserbien herstellen. Zweitens soll sie der These vom cover-up die notwendige Konkretion geben und damit als exemplarischer Fall der angeblich von höchster Stelle angeordneten ‘Vernichtung von Beweismitteln’ (n-tv) dienen. Die Details werden entlang den Aussages von Zeugen, die mit der Bergung des Lasters zu tun hatten, konstruiert. Auch diese Konstruktion der Anklage, die ohnehin schon sehr hypothetisch ist, steht auf tönernen Füssen, wie ein erneuter Vergleich der Transkripte belegt.

Der PR-Mann Dragan Karleusa musste am 23. Juli 2002 einräumen, dass er über den Verbleib der Leichen nichts wisse und auch über ihre Herkunft keine genauen Informationen habe. Wenige Stunden später bekräftigte der damals vor Ort anwesende Kriminaltechniker Bosko Radojkovic dies. Er könne mit Sicherheit sagen, dass die Leichen noch nicht gefunden wurden. Ausserdem sei er davon überzeugt, dass sie vor ihrem Auftauchen nicht beerdigt worden waren. Diese Aussage belegt: es kann sich nicht um dieselben Leichen handeln. Ein Ermittler des Den Haager Anklagebüros bezeugte nämlich am 9. September 2002, dass die Leichen von Batajnica vorher beerdigt und exhumiert worden waren, aber nicht in der Nähe des Kühllasterfundorts an der rumänischen Grenze sondern auf einem Armeeschießstand bei Prizren im Kosovo.

Damit ist die Geschichte vom versunkenen Kühllaster nutzlos geworden. Es ist nicht verwunderlich, dass die Haager Anklage sicherheitshalber noch eine andere Strategie fährt, die aber ohne spektakuläre LKW-Versenkungen auskommen muss. Sie will nachweisen, dass einige der Leichen mit mutmaßlichen Opfern eines Polizeieinsatzes in Suva Reka, einer UCK-Hochburg, am 26. März 1999 identisch seien. Aber auch hier gibt es viele Unklarheiten, angefangen angefangen von der Frage, warum sechs der neun identifizierten Opfer erst in der zum zweiten Mal abgeänderten Anklageschrift vom 29. Oktober 2001 auftauchen und zwei nicht einmal dort, obwohl die Hauptzeugin S. Berisha schon seit dem 17. Mai 1999 im Kontakt mit Beamten der Anklage stand. Nicht einmal der Name ihrer eigenen Tochter Herolinda, deren Tod sie bei ihrem kurzen Auftritt in Den Haag erwähnte, steht in der Anklageschrift vom 29. Juni 2001. Dabei wies die Vertreterin der Anklage extra noch darauf hin, dass die Zeugin alle Namen der Opfer aufzählen konnte! Unklar ist auch, weshalb die Leichen nach Belgrad weitertransportiert wurden, denn der Zeuge Ali Gjogaj, der selbst an Umbettungen teilgenommen hatte, berichtete am 3. Juli 2002 von vier Orten im Kosovo, an denen Leichen zum zweiten Mal bestattet wurden. Wie konnte das sein, wenn ein cover-up angeordnet wurde? Bemerkenswert ist auch, dass laut Human Rights Watch das Leben in Suva Reka nach dem 29. März.1999 trotz kriegsbedinger materieller Einschränkungen und vereinzelter Übergriffe gegen Zivilisten relativ geordnet weiterging.

Auch im Hinblick auf das mutmaßliche "Staatsgeheimnis" konnte ein Zeuge nicht bestätigen, was ein Jahr zuvor angebliches Allgemeingut gewesen war. Caslav Golubovic, als Chef der Polizeibehörde von Bor für die Untersuchung des Kühllasters zuständig, betrat am 3. September 2002 den Zeugenstand. Er bejahte, mehrere Gespräche mit seinem Vorgesetzten Vlastimir Djordjevic, der an dem angeblich hochkonspirativen Treffen mit Milosevic teilgenommen hatte, geführt zu haben. Aber sie waren keinesfalls geheimnisvoll. Djordjevic habe zuerst vorgeschlagen, die Leichen vor Ort zu begraben, sei dann aber von ihm, Golubovic, überzeugt worden, die Leichen zwecks Identifizierung untersuchen zu lassen. Er wisse nicht, was mit ihnen geschehen sei, da die für diesen Fall forensischen Einrichtungen in Bor nicht vorhanden waren. Auf Nachfrage von Milosevic stellte er ausserdem klar, dass staatliche Stellen zu keiner Zeit einen Stillschweigebefehl über die Sache erließen. Zwar wurde empfohlen, gegenüber Journalisten vorläufig keine Einzelheiten bekanntzugeben, aber es sei nie um ein ‘Staatsgeheimnis’ gegangen. Damit widerlegt er die entsprechende Behauptung Karleusas, der sich offenbar auch hier auf dubiose Gesprächsprotokolle seiner "Arbeitsgruppe" verlassen hatte.

Zum Schluss eine Anekdote. Was hielt eigentlich der Kronzeuge Radomir Markovic, von der Kühllaster-Geschichte? Stijovic vermittelte davon einen anschaulichen Eindruck: He said it was an idiotic and psychiatric case. That is to say the very idea would be idiotic, that somebody could push a refrigerator truck with corpses into the Danube and think that this would not be discovered … And I tend to agree with him there. I think that it is quite unbelievable (in der französischen Version: invraisemblable).

Fürwahr unglaublich, dieser Zirkus!



[1] Auszüge aus dem folgenden Beitrag wurden für einen Zwischenbericht zum Prozess gegen Slobodan Milosevic, der in KONRET 1/2003 erschien, verwandt. Die (inoffiziellen) Transkripte sind einsehbar unter www.un.org/icty/transe54/transe54.htm. Eine Chronologie der medialen Inszenierung der Kühllaster-Geschichte findet sich unter www.medienanalyse-international.de/cool.htm.

[2] Es lohnt sich, hier einige Passagen ausführlicher wiederzugeben. Q. [Milosevic]: “You say that before this operation, civilians had been displaced, but I understood you to mean that civilians had been displaced or moved out only for their protection.” A. [“K25”]: “Yes. It was our objective precisely to move the civilian population out of the zone of operations.” Q. “The civilians were not moved out in order to displace them or drive them out, just in order to take them out of the zone of combat operations; is that correct?” A. “Yes.” … Q. “I wish to ask you now in general terms about the relationship or, rather, the attitude of the police towards the civilians, the way they treated the civilians. Is it true that apart from repelling and neutralising the KLA or – in other words, your anti-terrorist actions – your next assignment was to collect the civilian population and extract it from the zone of combat operations for their own security? Is that so? Is that correct or not?” A. “Yes. That was always our objective in all operations.” Q. “Therefore, every time the police carried out an operation against the KLA in any area, there were always civilians involved and it was always necessary to extract them from the combat zone to protect them?” A. “Yes.” – Q.” So this part of your activity was exclusively geared at protecting civilians; is that correct?” A. “Yes.” – Man fragt sich, was in aller Welt die Anklage dazu bewogen hat, diesen Zeugen vorzuladen?!

[3] Der Arzt Agron Berisha bezeugte am 25. Februar 2002, dass er als Kosovo-Albaner in Jugoslawien zu keiner Zeit, auch dann nicht, als die UCK im Kosovo bereits aktiv war, irgendwelche Benachteiligungen erfahren hatte. Dennoch gestand er, keinerlei Mitleid zu empfinden mit dem Direktor des medizinischen Zentrums in Suva Reka, Boban Vuksanovic, der zusammen mit drei weiteren Personen während des NATO-Angriffs ermordet wurde. Obwohl Berisha einräumte, von Vuksanovic stets gut behandelt worden zu sein und ihm sogar eine Anstellung verdankte, hielt er ihn für einen “sehr schlechten Menschen”:  Q. “Were you sorry when you heard that he'd been killed?” A. “Not at all.” Q. “ What kind of a man was he, in your opinion; a good one or a bad one?” A. “A very bad man.” Ein Kommentar erübrigt sich.

 

© 2003 by Matthias Gockel, Email: gomatt@gmx.net

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